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Blum, Gerd
Hans von Marées: autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne — München, Berlin, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.14541#0244

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VI. Autobiographie und Abstraktion

Der Maler hat das Gemälde in einem Brief an Fiedler als »Resultat meiner
Selbstüberwindung«11 bezeichnet. Als Bewältigung der Ereignisse von San Fran-
cesco lässt es sich verstehen, weil die persönliche Thematik, die in den Zeichnungen
noch deutlicher hervortritt, im >allgemeinen< Thema der >Lebensalter< — jedenfalls
teilweise — aufgehoben ist. In der szenischen Unabhängigkeit von Paar und Pflücker
ist zudem die Trennung von Hildebrand eingestanden — im Gegensatz zu den ge-
zeichneten Wunschbildern von Vermittlung und Versöhnung (Abb. 22, 23), aus
denen das Gemälde hervorging. Es kann als eine sublimierte Versöhnung dieser
Trennung verstanden werden, dass sie in einer formalen Ganzheitsstruktur >über-
wunden< wird. Allein die formale Komposition des Bildes veranschaulicht eine
Übereinkunft des szenisch Unverbundenen, während in den besprochenen Zeich-
nungen der Ansatz zu einer tatsächlichen Versöhnung dargestellt ist.
Das Vorbild der für die Konzeption der Lebensalter wichtigen Zeichnung Die
Frau zwischen den beiden Männern (Abb. 21) und weiterer >Wunschbilder< von
Marees, das antike Orpheus-Relief in Neapel'9 (Abb. 26), zeigt gemäß der Inter-
pretation von Marees eine alle drei Figuren umfassende Versöhnung als körper-
sprachlich artikuliertes Geschehen.80 Endgültige Trennung erscheint als tiefste
Begegnung. Die Figuren im attischen Relief sind, wie erwähnt, szenisch und formal
verbunden. Der Orangenpflücker der Lebensalter ist hingegen lediglich formal mit
dem Paar in Beziehung gebracht. Das Faktum der Trennung wird durch keine
Zuwendung der Figuren, sondern ausschließlich formal versöhnt. Dass formal in
Einklang gebracht wird, was tatsächlich nicht in Einklang steht, erweist sich nicht
nur vor dem Hintergrund der biographischen Sachverhalte als eine Utopie:81 Der
utopische Charakter der formalen Ganzheitsstruktur wird in der Anschauung des
Bildes vielmehr durch die beschriebene »Entgegenständlichung«82 unmittelbar er-
sichtlich, die sich in einer auf das Gesamtbild gerichteten Betrachtung zwangs-
läufig vollzieht. Es ist kulturgeschichtlich bedeutsam, dass die Lebensalter zwar
die formale Totalität des klassischen komponierten Tafelbildes< aufweisen, diese
aber nicht mehr als Eigenschaft der dargestellten Wirklichkeit erfahrbar
machen.1,3 Auch wenn Marees seine Malerei als eine Feier der Ordnung der Natur
und des Bestehenden wahrgenommen wissen wollte, so erweist sie sich in diesem
brand, der das Bild kopiert hat, erkannte sicherlich die stilistischen Verwandtschaften zu sei-
nen eigenen Werken. Ob er auch die semantischen Implikationen dieses Rückgriffs wahrnahm,
ist anhand seiner Briefe nicht nachzuweisen, erscheint mir jedoch sehr wahrscheinlich.
78 An Fiedler, 3. Juli 1880; Meier-Graefe 1909-1910, Bd. III, S. 213.
79 Vgl. in der vorliegenden Arbeit III.2.1.2.3. und VI.2.5. (Exkurs).
80 Vgl. Kantorowicz 1961, S. 56ff., bes. S. 63ff., und Touchette 1990.
81 Das Verhältnis zu Hildebrand blieb zeitlebens sehr distanziert. Siehe in vorliegender Arbeit
IV.4.1. und ausführlicher Esche-Braunfels 1987. Irene Koppel scheint Marees höchstens ein-
mal wiedergesehen zu haben. (Vgl. BS, Annalen. In diesen sehr detaillierten Aufzeichnungen
fehlt jeder Hinweis auf eine solche Begegnung. Hingegen geht Meier-Graefe 1909-1910,
Bd. III, S. 259, Anm. 2, davon aus, dass ein Treffen im Herbst 1883 stattgefunden habe.)
82 Imdahl 1981, S. 9 ff.
83 Vgl. Imdahl 1980, S. 84ff., und Adorno 1997, S. 9-11. Zu den historischen Wandlungen des
Begriffs von kompositorischer Einheit vgl. Imdahl 1985, Körner 1988, Puttfarken 2000.

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