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Jan Białostocki

DIE GE BURT DER MODERNEN LANDSCHAFTSMALEREI

Die Darstellung der Natur, die das Leben der Menscłien umgibt, geluirt scit dem Altertum
zu den Aufgaben der Kunst. Sie wurde besonders i a der spatantiken Landschaftskunst, iii- den
sogenannten Odysseelandschaften, in den dekorativen Mosaiken, wie in Palestrina, und in
einigen Handschriftenillustrationen zu eiuer bohen Reife entwickelt, dann aber im Mittelalter
wieder vernachlassigt und vergessen.

Die Natur war jedoch auch im Leben des mittelalterbchen Menschen ein so wichtiger Faktor,
dass das kiiiistlerische Interesse an ihr am Ende des Mittelalter? in der Kunst wieder stark
zunahm. Es war die vom Menschen gepflegte, bebaute Natur, dereń sich mit den Jahreszeiten
verjinderndes Bild in den Kalenderillustrationen eine immer reifere Form erreichte. Die Kunst
stellte aber auch eine aus den Fenstern des Schlosses gesehene .,elitare" Natur dar. die ais Symbol
des genussvol!en Lebens der feudalen Gesellschaftsspitze angesehen wurde : einen Schlossgarten
mit einem Brunnen, Blumen und einer Łaube, einen Haiti, ein Jagdgelan.de mit Wild — eine
von Menschen beherrscbte Natur, die dem Vergniigen ais Kulisse diente. Diese Darstellungen
waren ein Gegenstiick des iu der mittelalterlichen Literatur bekannten „topos" der Beschreibung
cines angenehmen, entziickenden Ortes — locns amoenus.

Die Kunst zeigte also damals die Natur nicht um ihrer selbst willen, sondern ais Tatigkeitsbereich
des Menschen — ais Gebiet seiner Arbeit oder seines Yergniigens. Am Ende des Spatmittelalters
und am Anfang der Neuzeit erweiterten die Kunstler ihr Gesichtsfeld. Das Interesse fur die
Erkenntnis der Natur ais eines kosmischen Ganzen wurde wach. In den W eltlandschaften des
,,guten Landschaftsmalers" Joachim Patinir, wie ihn Albrecht Diirer in seinem niederlandischen
Tagebuch nannte, ist die ^ elt der iNatur ais eine enzyklopadische Yielheit gezeigt, die sich aus
Tausenden gleichmassig genau gesehener Einzelheiten zusammensetzt, aber einer gottliehen
Ordnung unterstellt wird und in dieser Weise von aussen her eine Einheit gewinnt. Diese von
Gott geordnete Natur ist ais ein Mosaik von Einzelbeobachtungen dargestellt.

In dem ausserodentlich bemerkenswerten Bilde Albrecht Altdorfers wurde die Schlacht unter
den Menschen ais ein Ereignis dargestellt, das Erde und Himmel umfasst. Das Leben der Natur
ist in den Kampf der Menschen mit einbezogen. Die Dynamik des menschlichen Geschehens
gleicht der kosmisch aufgefassten Natur. Die panoramischen Weltlandschaften Patinirs und
seiner Nachfolger entfalten vor dem Betrachter einen Reichtum an landschaftlichen Motiven ;
die ganze Bildfliiche wird mit einer Vielheit verschiedenartiger Elemente iibersponnen, die alle
ihre eigenen individuellen perspektivischen Systeme aufweisen. Das Ganze ist phantastisch
aufgefasst. Der hohe Horizont erweckt den Anschein, li i s waren die Ansichten, die diese Bilder
zeigen, aus einer betrachtlichen Hohe aufgenommen worden. Die Yielheit und Wahrhaftigkeit
der dargestellten Elemente wirken ebenso auf den Betrachter wie das Kiiiistlerische des aus
diesen Teilen gebauten Ganzen. Diese Bilder sind im einzelnen kiinstlich vorbereitet fiir die
Liebhaber einer visuellen Wanderung durch die Labyrinthe der Felsen und Buchten, Walder
und Wiesen, der fernen Stiidte, Fliisse und Seen. Gleichzeitig eignen sich diese Bilder zu einer
Kontemplation des Canzen ais einer geschlossenen Einheit. In dieser Art treten in Bildern
Patinirs und seiner Zeitgenossen zwei \ erschiedene Betrachtungsw eisen auf : die mittelalterliche
simultane Darstellung der vielen Ansichten und ilie ncuzeitliche iibergcordnete Einheit des
Ganzen.

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