Allgemeine Charakteristik.
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Die Skulptur wurde allerdings jetzt selbständiger gestellt,
sie wurde noch freier als sie es selbst im Quattrocento ge-
wesen war. Denn die Dekoration, mit der sie bis dahin im
Zusammenhang gedacht war, wurde beseitigt oder sehr einge-
schränkt; die Malerei, welche man bisher zu ihrer Vollendung
für erforderlich gehalten hatte, wurde völlig getrennt von der
Skulptur, und selbst mit der Architektur ist dieselbe meist nur
lose verbunden oder drückt diese sogar in ein untergeordnetes,
dienendes Verhältnis herab.
Auch auf den Inhalt sucht die Hochrenaissance ihre Nach-
ahmung der Antike auszudehnen. Die religiösen Vorwürfe und
Gestalten hatten schon lange ihre feste Form bekommen; jetzt
wurde im Anschlufs an die Antike auf's eifrigste die Mythologie
und Allegorie gepflegt. Die antiken Götter entstanden, trotz
der Reaktion in der Kirche, zu neuem Leben; freilich nicht
als Andachtsbilder, sondern als allegorisches Beiwerk. Daher
wurde ihnen unbeanstandet selbst in die Kirchen und in kirch-
lichen Darstellungen der Eintritt gestattet.
Die Ueberzeugung von der Gröfse und Selbständigkeit der
Plastik verleitete Künstler wie Auftraggeber zu dem Streben, die
Skulpturen, wenn möglich, kolossal zu gestalten. Während die
Frührenaissance ihre Figuren regelmäfsig etwas unter Lebens-
gröfse bildete, ist in der Hochrenaissance der kolossale Mafsstab
beinahe Regel; was die Skulptur an Interesse durch den Mangel
an individuellen Gestalten eingebüfst hatte, sollte durch die
überwältigende Wirkung des Kolossalen wieder eingebracht
werden. Ein anderes Mittel zum gleichen Zweck, das Aufsuchen
und Herausheben von Gegensätzen, wird geradezu zu einem
der leitenden Grundsätze für die Plastik der Hochrenaissance
nicht nur die Gegensätze in Geschlecht und Alter, deren typische
Gestaltung die Künstler anstreben, sondern bei der einzelnen
Figur der Gegensatz zwischen Körper und Kopf, sowie nament-
lich zwischen den beiden Seiten des Körpers. Der »contra-
posto«, das Hervortreten der einen Körperseite gegen die andere,
die scharfe Betonung zwischen Spielbein und Standbein und
ein entsprechender Gegensatz in der Bewegung der beiden
Arme, ist den meisten Bildhauern der Hochrenaissance ein viel
wichtigeres Gesetz als das Studium der Natur.
Die Richtung auf das Grofse und Schöne in der Kunst des
Cinquecento entstand als natürliche Gegenwirkung gegen die
einseitige Betonung des Wirklichen und Gefälligen in der Kunst
des Quattrocento; sie wurde aufserdem, ganz besonders in der
Skulptur, gefördert durch das erneute und völlig veränderte
Studium der Antike; der innerste Antrieb, aus dem sie hervor-
ging, liegt jedoch in der geistigen Strömung der Zeit, welche schon
Ende des XV. Jahrh. in Florenz die reformatorische Bestrebung
Savonarola's hervorrief und später, in andere Kanäle geleitet,
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Die Skulptur wurde allerdings jetzt selbständiger gestellt,
sie wurde noch freier als sie es selbst im Quattrocento ge-
wesen war. Denn die Dekoration, mit der sie bis dahin im
Zusammenhang gedacht war, wurde beseitigt oder sehr einge-
schränkt; die Malerei, welche man bisher zu ihrer Vollendung
für erforderlich gehalten hatte, wurde völlig getrennt von der
Skulptur, und selbst mit der Architektur ist dieselbe meist nur
lose verbunden oder drückt diese sogar in ein untergeordnetes,
dienendes Verhältnis herab.
Auch auf den Inhalt sucht die Hochrenaissance ihre Nach-
ahmung der Antike auszudehnen. Die religiösen Vorwürfe und
Gestalten hatten schon lange ihre feste Form bekommen; jetzt
wurde im Anschlufs an die Antike auf's eifrigste die Mythologie
und Allegorie gepflegt. Die antiken Götter entstanden, trotz
der Reaktion in der Kirche, zu neuem Leben; freilich nicht
als Andachtsbilder, sondern als allegorisches Beiwerk. Daher
wurde ihnen unbeanstandet selbst in die Kirchen und in kirch-
lichen Darstellungen der Eintritt gestattet.
Die Ueberzeugung von der Gröfse und Selbständigkeit der
Plastik verleitete Künstler wie Auftraggeber zu dem Streben, die
Skulpturen, wenn möglich, kolossal zu gestalten. Während die
Frührenaissance ihre Figuren regelmäfsig etwas unter Lebens-
gröfse bildete, ist in der Hochrenaissance der kolossale Mafsstab
beinahe Regel; was die Skulptur an Interesse durch den Mangel
an individuellen Gestalten eingebüfst hatte, sollte durch die
überwältigende Wirkung des Kolossalen wieder eingebracht
werden. Ein anderes Mittel zum gleichen Zweck, das Aufsuchen
und Herausheben von Gegensätzen, wird geradezu zu einem
der leitenden Grundsätze für die Plastik der Hochrenaissance
nicht nur die Gegensätze in Geschlecht und Alter, deren typische
Gestaltung die Künstler anstreben, sondern bei der einzelnen
Figur der Gegensatz zwischen Körper und Kopf, sowie nament-
lich zwischen den beiden Seiten des Körpers. Der »contra-
posto«, das Hervortreten der einen Körperseite gegen die andere,
die scharfe Betonung zwischen Spielbein und Standbein und
ein entsprechender Gegensatz in der Bewegung der beiden
Arme, ist den meisten Bildhauern der Hochrenaissance ein viel
wichtigeres Gesetz als das Studium der Natur.
Die Richtung auf das Grofse und Schöne in der Kunst des
Cinquecento entstand als natürliche Gegenwirkung gegen die
einseitige Betonung des Wirklichen und Gefälligen in der Kunst
des Quattrocento; sie wurde aufserdem, ganz besonders in der
Skulptur, gefördert durch das erneute und völlig veränderte
Studium der Antike; der innerste Antrieb, aus dem sie hervor-
ging, liegt jedoch in der geistigen Strömung der Zeit, welche schon
Ende des XV. Jahrh. in Florenz die reformatorische Bestrebung
Savonarola's hervorrief und später, in andere Kanäle geleitet,
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