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I. Die Blattern.
Kaiserin Katharina und ihres Sohnes nach Russland ging, — der
Entschluss der Kaiserin lässt die Noth ahnen — schätzte er die
Pockensterblichkeit im Kaiserreiche ins Ungeheure.
Ueber die Pocken in Ostindien, in der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts, gibt ein Augenzeuge, Holwell, Bericht. Sporadisch
immer vorhanden, kehrten sie in etwa siebenjährigen Zwischen-
räumen wieder, um, als confluente Form, mit höchster Bösartigkeit
die Bevölkerungen zu lichten; Wenige, die durch gewöhnliche An«
steckung erkrankten, kamen mit dem Leben davon. Der Tod er-
folgte in den frühen Perioden der Krankheit, die Kunst erwies sich
ganz ohnmächtig, und die Furcht der Europäer war so gross, dass
sie ihr durch die Flucht auf ihre Landsitze, und strenge Absperrung
zu entrinnen suchten'.
Die enorme Pandemie der Faulfieber, welche gegen den Schluss
der 60ger Jahre sich zu entwickeln begann, und in ihrer Akme
(1770 —1772) einen grossen Theil der bewohnten Erde umfasste,
schien anfangs die Blattern niederzudrücken, welche dann jedoch,
im J. 1770, fast an allen Punkten des unermesslichen Gebietes,
das jene typhöse Pandemie beherrschte, mit neuer Wuth sich be-
festigten. Ihre Verheerungen unter den indischen Völkern, schreibt
Hecker, waren beispiellos. Nie sah man eine grauenvollere Nieder-
lage ; der schwarze Tod raubte Europa den vierten Theil seiner Be-
völkerung in zwei Jahren — hier wurden 3 Millionen Menschen auf
einem kleinen Raum innerhalb weniger Monate vernichtet. Und wo
wir nur irgend in Europa von herrschenden Krankheiten Kunde
haben, da sehen wir ihnen auch die Pocken beigesellt. Wäre nicht
die Aufmerksamkeit der Aerzte von der längst gewohnten Erschei-
nung so abgestumpft gewesen, dass man ihrer im Ganzen wenig
achtete, so würden wir noch das Bild einer Pockenseuche entwerfen
können, die an Ausdehnung vielleicht von keiner übertroffen, zwi-
schen den Wendekreisen von sengender, Hitze, ihrem eigentlichen
Elemente, und in den nordischen Himmelsstrichen von der Nässe des
Dunstkreises, von winterlichen Nebeln begünstigt wurde1).
Von dieser Zeit ab, durch die noch übrigen Decennien bis zum
Schlüsse des Jahrhunderts, ja in das nächste hineinragend, behauptet
die Seuche nicht blos die verderbliche Höhe, welche sie erstiegen
hatte, sondern scheint in stetigem Anwachsen begrilfen.
Mancherlei Ereignisse unterstützten sie durch ihr Zusammen-
treffen: die vielen Kriege diesseits und jenseits des Oceans, der,
1) Hecker, Geschichte der neueren Heilkunde. Berlin 1839.
I. Die Blattern.
Kaiserin Katharina und ihres Sohnes nach Russland ging, — der
Entschluss der Kaiserin lässt die Noth ahnen — schätzte er die
Pockensterblichkeit im Kaiserreiche ins Ungeheure.
Ueber die Pocken in Ostindien, in der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts, gibt ein Augenzeuge, Holwell, Bericht. Sporadisch
immer vorhanden, kehrten sie in etwa siebenjährigen Zwischen-
räumen wieder, um, als confluente Form, mit höchster Bösartigkeit
die Bevölkerungen zu lichten; Wenige, die durch gewöhnliche An«
steckung erkrankten, kamen mit dem Leben davon. Der Tod er-
folgte in den frühen Perioden der Krankheit, die Kunst erwies sich
ganz ohnmächtig, und die Furcht der Europäer war so gross, dass
sie ihr durch die Flucht auf ihre Landsitze, und strenge Absperrung
zu entrinnen suchten'.
Die enorme Pandemie der Faulfieber, welche gegen den Schluss
der 60ger Jahre sich zu entwickeln begann, und in ihrer Akme
(1770 —1772) einen grossen Theil der bewohnten Erde umfasste,
schien anfangs die Blattern niederzudrücken, welche dann jedoch,
im J. 1770, fast an allen Punkten des unermesslichen Gebietes,
das jene typhöse Pandemie beherrschte, mit neuer Wuth sich be-
festigten. Ihre Verheerungen unter den indischen Völkern, schreibt
Hecker, waren beispiellos. Nie sah man eine grauenvollere Nieder-
lage ; der schwarze Tod raubte Europa den vierten Theil seiner Be-
völkerung in zwei Jahren — hier wurden 3 Millionen Menschen auf
einem kleinen Raum innerhalb weniger Monate vernichtet. Und wo
wir nur irgend in Europa von herrschenden Krankheiten Kunde
haben, da sehen wir ihnen auch die Pocken beigesellt. Wäre nicht
die Aufmerksamkeit der Aerzte von der längst gewohnten Erschei-
nung so abgestumpft gewesen, dass man ihrer im Ganzen wenig
achtete, so würden wir noch das Bild einer Pockenseuche entwerfen
können, die an Ausdehnung vielleicht von keiner übertroffen, zwi-
schen den Wendekreisen von sengender, Hitze, ihrem eigentlichen
Elemente, und in den nordischen Himmelsstrichen von der Nässe des
Dunstkreises, von winterlichen Nebeln begünstigt wurde1).
Von dieser Zeit ab, durch die noch übrigen Decennien bis zum
Schlüsse des Jahrhunderts, ja in das nächste hineinragend, behauptet
die Seuche nicht blos die verderbliche Höhe, welche sie erstiegen
hatte, sondern scheint in stetigem Anwachsen begrilfen.
Mancherlei Ereignisse unterstützten sie durch ihr Zusammen-
treffen: die vielen Kriege diesseits und jenseits des Oceans, der,
1) Hecker, Geschichte der neueren Heilkunde. Berlin 1839.