Venedig und Tintoretto
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in den Mittelpunkt rückt. Ohne Glauben können
Menschen zwar dem tiefsten Abgrund entgehen, können
jedoch nimmermehr die Glorie himmlischer Hoffnung
und Liebe erklimmen. . . . Der goldene Reif der Prin-
zessin umgiebt eine enge rote Schaube, welche das
Haar verbirgt. Ihre Locken dürfen nicht frei hernieder-
wallen, denn ehe der Drachen nicht bezwungen ist,
wird ihr das himmlische Leben nicht gesichert sein,
noch wird die Hochzeit mit dem grossen Bräutigam
ihr zu teil“ (Fors III 35). Nebenbei wirft er sich
leidenschaftlich auf seine alte Liebe, zergliedert und
erklärt die Gotik Venedigs.
Im Venedig jener frühen Zeiten ersah er nur die
fleckenloseste, erhabenste Tugend. „Ernst, majestätisch
und furchtbar, wie das Meer — so übten die Männer
Venedigs die Gewalt der Herrschaft und des Krieges,
rein wie ihre Alabastersäulen die Mütter und Jung-
frauen; edel vom Scheitel zur Sohle ihre Ritter, zornig
leuchtete der tiefeherne Glanz der Rüstungen unter
den blutroten Falten der Mäntel. Furchtlos, treu, ge-
duldig, unergründlich, unerbittlich — jedes Wort ein
Geschick — so tagte ihr Senat“ (M. P. V 68). Selbst-
verständlich ist diese schöne Apotheose ebenso un-
wahr als seine Beurteilung der „fluchwürdigen mo-
dernen Italiener“ (Stones I 147) und ihrer „um San
Marco spielenden unbeachteten Kinder. Jeder stumpfe
Blick ihrer jungen Augen, von Verzweiflung und
versteinerter Verderbnis erfüllt, ihre Kehlen durch
vieles Fluchen heiser und rauh — dort schachern
und zanken und balgen und schlafen sie Stunde
auf Stunde, und ihre verbogenen Centesimi klap-
pern auf den marmornen Stufen des Kirchenportals“
(Stones I 105).
Auf das Naivste behauptet er, dass alle edlen
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in den Mittelpunkt rückt. Ohne Glauben können
Menschen zwar dem tiefsten Abgrund entgehen, können
jedoch nimmermehr die Glorie himmlischer Hoffnung
und Liebe erklimmen. . . . Der goldene Reif der Prin-
zessin umgiebt eine enge rote Schaube, welche das
Haar verbirgt. Ihre Locken dürfen nicht frei hernieder-
wallen, denn ehe der Drachen nicht bezwungen ist,
wird ihr das himmlische Leben nicht gesichert sein,
noch wird die Hochzeit mit dem grossen Bräutigam
ihr zu teil“ (Fors III 35). Nebenbei wirft er sich
leidenschaftlich auf seine alte Liebe, zergliedert und
erklärt die Gotik Venedigs.
Im Venedig jener frühen Zeiten ersah er nur die
fleckenloseste, erhabenste Tugend. „Ernst, majestätisch
und furchtbar, wie das Meer — so übten die Männer
Venedigs die Gewalt der Herrschaft und des Krieges,
rein wie ihre Alabastersäulen die Mütter und Jung-
frauen; edel vom Scheitel zur Sohle ihre Ritter, zornig
leuchtete der tiefeherne Glanz der Rüstungen unter
den blutroten Falten der Mäntel. Furchtlos, treu, ge-
duldig, unergründlich, unerbittlich — jedes Wort ein
Geschick — so tagte ihr Senat“ (M. P. V 68). Selbst-
verständlich ist diese schöne Apotheose ebenso un-
wahr als seine Beurteilung der „fluchwürdigen mo-
dernen Italiener“ (Stones I 147) und ihrer „um San
Marco spielenden unbeachteten Kinder. Jeder stumpfe
Blick ihrer jungen Augen, von Verzweiflung und
versteinerter Verderbnis erfüllt, ihre Kehlen durch
vieles Fluchen heiser und rauh — dort schachern
und zanken und balgen und schlafen sie Stunde
auf Stunde, und ihre verbogenen Centesimi klap-
pern auf den marmornen Stufen des Kirchenportals“
(Stones I 105).
Auf das Naivste behauptet er, dass alle edlen