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Busch, Werner
Die notwendige Arabeske: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.52657#0014
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keitsauseinandersetzung zu wenig aus und ist idealistisch-philosophischer Natur. Mit
Igelsheimer sah er, wie zitiert, im gelungenen Kunstwerk »die reelle wirkliche Individuali-
tät innerhalb ihrer selbst in ihr eigenes Ideal erhoben...«. Dieses Konzept eines »idealisti-
schen Realismus«, das von einem anderen Hegelschüler, Max Schasler, ausformuliert
wurde und das dieser etwa durch Kaulbach verwirklicht sah6, soll uns später am Rande
zwar noch interessieren; es hilft uns im zweiten Kapitel etwa mit zu verstehen, warum
Kunst, die sich ihm verschreibt, die Erkenntnisse der Wissenschaft nur ungenügend an-
schaulich werden lassen kann, aber es hilft nicht, wie die Einsicht in den Stilisierungspro-
zeß, die zeitgenössische künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, wo sie
tatsächlich Neuland betritt, besser zu begreifen. Vischer spricht auch nicht von Aneignung
der Wirklichkeit7; das Problem, diesen Aneignungsprozeß analysieren zu wollen, stellt
sich im deutschen 19. Jahrhundert wohl erst ganz am Ende im Fiedlerkreis, in dem ver-
sucht wird, eine Theorie der künstlerischen Tätigkeit zu entwickeln. Nach Konrad Fiedler
finden wir im Kunstwerk nicht das Abbild der Natur wieder, sondern das in der künstle-
rischen Tätigkeit Form gewordene künstlerische Wirklichkeitsbewußtsein, verwandelte
Natur in reinem Ausdruck. Künstlerische Tätigkeit stellt sich somit dar als der immer neue
»Versuch, in das Gebiet des sichtbaren Seins vorzudringen und es in gestalteter Form dem
Bewußtsein anzueignen«. Diese Aneignung gibt dem Künstler »Wirklichkeitsbesitz«, des-
sen er sich in der Darstellung entäußert. Diesen Gedanken variiert Fiedler, an anderer
Stelle heißt es: Ziel der Kunst sei es, im künstlerischen Tätigkeitsakt „Natur als ein Sicht-
bares sich anzueignen«8, wobei das Sichtbare bereits ein in künstlerische Anschauung Ver-
wandeltes ist. Wie im einzelnen dieser Prozeß zu denken ist, ob allein dem selbst künstle-
risch Veranlagten das Nacherleben des Tätigkeitsvorganges - höchstes und einziges Ziel
der Kunstbetrachtung - möglich ist, das mag hier dahingestellt sein, die Vorstellung von
der Ansiedlung des Wirklichkeitsaneignungsprozesses in der künstlerischen Tätigkeit
selbst jedoch eröffnet Möglichkeiten des Begreifens, die wir besonders im dritten Kapitel
bei der Betrachtung der autonomen Ölskizze nutzen wollen.
Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung stellen also, nach unserem Verständnis, zwei
Formen der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Gegenwart des
19. Jahrhunderts dar. Erstere hebt auf den Prozeß, die zweite auf das Resultat künstle-
rischer Tätigkeit ab. Beide jedoch versuchen wir notwendig am Gegenstand anschaulich
werden zu lassen. Denkt man beide in ihren Konsequenzen zuende, so nähern sie sich ten-
denziell einander an - was nicht verwundern kann, handelt es sich doch um zwei Seiten
einer Medaille, künstlerische Reaktionen auf die eine historische Realität. Kunst, die des
Wirklichkeitsaneignungsprozesses inne wird, tendiert dazu, diesen selbst zum Thema zu
machen. Kunst, die in reflektierter Absicht stilisiert, tendiert dazu, die Form autonom zu
setzen. Von extrem verschiedenen Positionen aus löst sich jeweils, wiederum tendenziell,
die traditionelle künstlerische Verpflichtung auf die Darstellung des Gegenständlichen

6 s. Busch, op. cit. (Anm. 3), S. 223-234: Ferner zu Schaslers Begriff des Stilisierens s. u. S. 309f.
7 Hegel selbst allerdings spricht bereits davon, s. u. S. 302. Er analysiert den künstlerischen Prozeß
selbst jedoch nur in Ansätzen, sein Interesse bleibt letztlich der Auffassung des Gegenständli-
chen verhaftet.
8 Konrad Fiedler, Der Ursprung der künstlerischen Form (1887), in: ders., Schriften über Kunst, ed.
Hans Eckstein, Köln 1977, S.216f., 206, 219.

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