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3.
Die Kunst geht der Natur in ihrem Wirken nach, den Sinn, den sie in
ihren Erzeugnissen nur mangelhaft ausspricht, zu deuten, sie in das schöne Ganze
der befreiten Wirklichkeit zurückzubilden. Der Künstler kann nicht über die Natur
hinausgehen. Er kann nur darstellen, was er in ihr geschaut hat. Er bleibt
aber nicht bei den Dingen stehen, wie sie erscheinen. Er scheidet aus alles Un-
bedeutende, Uneigentliche, Mangelhafte. Der Geist, der in der Kunst erscheint,
ist der lebendige, den Gott in und über die ganze Schöpfung ausgegossen hat.
Durch ihn schaut der Künstler im Endlichen das Unendliche, im Einzelnen das
Allgemeine. Genialität ist Sinn für das Wesentliche. Das meint A. Dürer, wenn
er sagt: Die Kunst steckt in der Natur; wer sie Herausreißen kann, der hat sie.
4.
Wie in dem Körper jedes Glied als solches in seiner Selbständigkeit sich
erhält, aber alle Glieder zusammengehören und die Schönheit des Ganzen dar-
stellen, so hat auch in dem Kunstwerk jedes Einzelne seine besondere Schönheit,
aber es darf nicht über sein Maß sich erheben und das Ganze sein wollen.
Einheit des Ganzen und Selbständigkeit der Glieder bilden zusammen die
lebendige Organisation, welche das Wesen der Schönheit ist.
Auch das Häßliche ist schön, wenn es da ist, wo es dem Ganzen dient, das
Böse als Folie, den Triumph des Guten zu erhöhen.
5.
Im vollendeten Kunstwerk ist nichts zufällig. In der Kunst giebt es keine
eigentlichen Nebensachen.
Was seinen Grund, seine Notwendigkeit nicht im Ganzen hat, es mag äußer-
lich noch so schön und geistreich sein, Gegenstand der Kunst ist es nicht.
Stil ist der geschlossene, einheitliche Charakter, der sich sinnlich offenbart.
Stilvoll ist das Kunstwerk, wenn der Hauptgedanke folgerecht in allem durch-
gcfübrt ist.
6.
Die Anlage und das Vermögen, das Schöne in der Natur zu erkennen,
ist dem Menschen angeboren. Nur der Grad seiner Ausbildung ist verschieden.
Der echte Künstler sieht den Dingen auf den Grund, bringt zum Ausdruck, was
in ihnen ist.
7.
Worin besteht der Zauber, womit das Kunstwerk uns ergreift? Es setzt
uns in Einklang mit dem All und mit uns selbst. Zuweilen, wenn wir von
einem Menschen reden hören, sagen wir: Ich kenne ihn, ich habe ihn gesehen,
ich kann mich nur nicht aus seinen Namen besinnen. Dasselbe gilt von der Idee.
Sie ruht als Urosfenbarung im Hintergrund unseres Bewußtseins. Der Künstler
spricht sie aus. Auf einmal steht sie leibhaftig vor uns: Das war es, was wir
suchten. Wer, was alle fühlen, wenige ahnen, so auszusprechen, ein Urbild so
darzustellen vermag, daß der Schauende vor Freude erzittert, weil er, was er
unbewußt in sich trägt, darin verkörpert findet, verdient Küustler genannt zu werden.
 
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