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die ausschließlich in Warschauer Gebäuden zu finden sind, haben die Entwicklung
des polnischen klassizistischen Interieurs entscheidend beeinflußt.
Der Prozeß der Übernahme neuer dekorativer Formen aus dem klassischen Re-
pertoire läßt sich am Beispiel der Warschauer Bürgerhäuser beobachten. Die alten
Barockhäuser erfuhren eine gründliche Verjüngungskur (z.B. Rynek Starego Mia-
sta 10, 11, 20, Ulica Mostowa 16/18, Ulica Freta 14/18). Seltener wurden neue
Gebäude errichtet, z.B. das Skalski-Haus nach Entwurf von Ephraim Schräger
(Ulica Krakowskie Przedmiescie 45) oder die Häuser in der Ulica Krakowskie
Przedmiescie 8, 10, 12, 14 und Ulica Freta 5.

DER WARSCHAUER KLASSIZISMUS IN DEN JAHREN VON 1780 BIS 1800
In dem Maße, wie die letzten Reste des Barocks dahinschwanden, setzten sich die
klassizistischen Formen immer mehr durch. Die Quellen der Inspiration bildeten
das klassische Altertum, die Baukunst Andrea Palladios und der Klassizismus des
17. Jahrhunderts. Auf der Grundlage der antiken Kunst entstand die strenge Rich-
tung der puristischen Architektur. Ihre Schöpfer unterschieden zwischen der dori-
schen und toskanischen Ordnung oder eliminierten diese überhaupt.
Das neue Verhältnis zur Klassik, gestützt auf ein erweitertes Wissen über die antike
Welt und auf archäologische Forschung, fand seinen Niederschlag im Schaffen
von Simon Gottlieb Zug und Johann Christian Kammsetzer. Die von Zug in
den Jahren von 1777 bis 1781 errichtete Kirche der Evangelisch-Augsburgischen
Gemeinde (Plac Malachowskiego) war für die klassizistische Architektur in Polen ein
äußerst bedeutsames Werk. Das Vorbild für diesen Bau bildete das antike römische
Pantheon, aber die Gestaltungsform des Baukörpers war typisch für die Ideale der
Baumeister zur Zeit der Aufklärung. Zug strebte ein Bauwerk mit strengen For-
men an, das sich kompositorisch auf elementare geometrische Körper-Zylinder,
Halbkugeln und Quader-reduzieren ließ. Die Strenge erreichte er durch die
Beschränkung der dekorativen Elemente auf das Bossenwerk und die dorische
Ordnung des Portikus. Das Empfinden Zugs für Fakturaeffekte verdeutlicht die
Brunnengestaltung in der Ulica Swierczewskiego, die sogenannte »Dralle Käthe«
(Gruba Kaska), in der er eine bossierte Wand mit variablem, dynamischem Wasser-
strahl zusammengestellt hat.
Dieser Baumeister schuf auch das erste Warschauer Warenhaus (Roessler & Hurtig,
Ulica Krakowskie Przedmiescie 79), das um 1785 erbaut wurde. Auch hier kommt
die moderne Haltung des Baumeisters zum Ausdruck, die auf dem Streben nach
größtmöglicher Sparsamkeit und Strertge in Dekoration und Komposition, auf
dem Bruch mit dem barocken Prinzip der Achsenkomposition beruhte. Zug
wandte die toskanische Ordnung bei der Gestaltung der Fensteröffnungen im Erd-
geschoß an, und die Fassade an der Straße Krakowskie Przedmiescie verlor durch
die gerade Zahl der Achsen die zentripetale Komposition. Die von Zug erbauten
Residenzen des wohlhabenden Bürgertums ahmten die Schlösser des Königs und
die Adelspalais nach. Beispiele dafür sind das umgebaute Palais »Zu den Vier
Winden« (Pod Czterema Wiatrami, Ulica Dluga 38/40) sowie das Blank-Palais
(Ulica Senatorska 14).
Ein nicht minder berühmter Baumeister war Johann Christian Kammsetzer, der
Gestalter mehrerer hervorragender Schloßinterieurs. Der von Kammsetzer ent-
worfene Ballsaal im Lazienki-Palais und die Interieurs im Palais der Familie
Tyszkiewicz (Ulica Krakowskie Przedmiescie 32) repräsentieren bereits einen fort-
geschrittenen, stark antikisierenden, geradezu »archäologischen« Klassizismus.
In diesen Räumen sucht man vergebens nach barocken Spuren; eine Ergänzung
der reinen Architektur bilden dagegen Skulpturen, Gemälde und Dekorationen aus
Stuck in enger Anlehnung an die antiken Vorbilder. Warschau hat Kammsetzer
den neuen, klassizistischen Typ des Stadtschlosses zu verdanken, das in die Straßen-
front eingereiht war. Diesen Typ verkörpern die Palais der Familien Tyszkiewicz
und Raczyriski (Ulica Dluga 7) sowie das Hintergebäude des Palais der Familie
Czapski (Ulica Krakowskie Przedmiescie 5). Kammsetzer hat den Fassaden-
schmuck auf ein Minimum reduziert und nur vereinzelt einen bescheidenen Wand-
portikus eingeführt. Den Typ des an der Straße gelegenen Herrensitzes vertritt
das Palais der Familie Lubomirski mit einem zehnsäuligen Portikus (Plac Zelaznej
Bramy), das von Jakob Hempel umgebaut wurde.
Anknüpfend an das Schaffen des großen italienischen Baumeisters Andrea Palladio
(1518-1580), nahmen die Warschauer Architekten im 18.Jahrhundert vier seiner
Werke zum Vorbild: die Fassaden der venezianischen Kirchen San Giorgio
Maggiore und II Redentore, eine kleine Villa bei Vincenca, die sogenannte Villa

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