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Eggers, Friedrich [Hrsg.]
Deutsches Kunstblatt <Stuttgart>: Zeitschrift für bildende Kunst, Baukunst und Kunsthandwerk ; Organ der deutschen Kunstvereine &. &. — 9.1858

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https://doi.org/10.11588/diglit.1202#0227
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bilds wenigstens angeregt haben, für den Fall, daß andere Orte
sich zur Aufstellung von Statuen entschlößen. Von Wittenberg
aus wird, soviel wir uns erinnern, für ein Melanchthondenkmal
gesammelt, und diese Stadt, der ehemalige Hauptwirkungskreis
der beiden Reformatoren, würde allerdings passenden Platz für
eine Gruppe geben. Dem Künstler würden diese beiden, so ver-
schiedenen Charaktere gewiß einen interessanten Gegensatz zur
Darstellung bilden. —

<^> Venedig.
Der Bildhauer Luigi Ferrari.
Wir waren in der Werkstatt von Luigi Ferrari. Das
Deutsche Kunstblatt hat seiner bereits mehrfach mit Anerkennung
gedacht, zuletzt in einem Beitrage „zur Beurtheilung der modernen
Kunst im lombardisch-venetianischen Königreiche" (8ter Jahrgang
Nr. 42), wo er über die Sphäre derjenigen italienischen Bildner
emporgehoben ist, welche sich bei freilich virtuoser Technik in Be-
handlung des Marmors doch nur in den hergebrachten Formen
und Ideen zu bewegen wissen. Allerdings müssen wir die wieder-
holten Lobsprüche Selvatico's, der in seinen so eben erschienenen
„oonsickerarioiii intorno alle 60rl.cki2i.0nl x-ressnti äollo arti ckel
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stiolle" gelegentlich Thorwaldsen, Tenerani, Ferrari und Rauch
-als einander gleich stehende Koryphäen der heutigen Skulptur neben
einander stellt, in etwas der Vorliebe des italienischen Aesthetikers
für seine heimische Kunst zu Gute halten; immer aber nimmt
Ferrari doch mindestens unter den Bildnern Oberitaliens
eine vorzügliche Stellung ein und ist nicht hinlänglich nach Ver-
dienst gekannt.
Ferrari selbst fordert die Kritik mit selbstbewußter Kühnheit
heraus: gleich neben dem Eingänge des Atelier ist das erste
Werk, das Modell einer kolossalen „Laokoongruppe." Wir können
ihm hierfür nur Dank wissen, da er uns damit den besten Maß-
stab der Beurtheilung sofort hinreicht und in diesem Werke
so zu sagen das Programm seiner Kunstrichtung und Kunstübung
namentlich auf historischem Gebiete vorlegt. Wir entnehmen da-
raus, daß Ferrari sich zum Gesetze gemacht hat, in Allem, was
die Form betrifft, die Antike als Grundlage und Norm anzuer-
kennen, für den Inhalt jedoch denjenigen Forderungen der mo-
dernen Kunst gerecht zu werden, welche Anschließung des Kunst-
werks an Leben und Wirklichkeit verlangen; oder um dies kürzer
mit den geläufigen Stichwörtern der Kunsttheorie zu bezeichnen,
er bindet realen Inhalt an ideale Formen. — Es ist
dies eine besondere Nüancirung der verschiedenen Möglichkeiten,
die für die Verwirklichung der heutzutage angestrebten Vereinigung
und gegenseitigen Durchdringung des Idealismus und Realismus
denkbar sind; und zwar scheint uns dies gerade die der heutigen
italienischen Plastik eigenthümliche Weise zu sein, in welcher sie
sich der deutschen Plastik, namentlich unsrer Denkmalskulptur, als
direkter Gegensatz gegenüber stellt, in sofern man in letzterer die
Tendenz vorwalten sieht, idealen Inhalt an reale Form
zu knüpfen. Natürlich sind die genannten Kategorieen von
Inhalt und Form, Idealismus und Realismus an dem Einzel-
kunstwerke nicht immer wie mit dem anatomischen Secirmesser
zerlegbar, und zwar um so weniger, je höhere Stufe der Ver-
söhnung der Gegensätze erreicht worden ist; nichtsdestoweniger
dürfte sich jedoch im großen Ganzen die gemachte Distinktion
vielfach schlagend als richtig erweisen. —
Was sich aus dieser Distinktion für den Vergleich des Fer-
rarischen Laokoon mit dem antiken Ergeben wird, ist somit hand-

greiflich, sobald man damit einverstanden ist, daß die antike Pla-
stik als stetes Ziel die Verbindung idealen Inhalts mit idea-
len Formen vor Augen halte. Die Antike zeigt uns nicht den
Priester Laokoon, nicht die in priesterlichen Handlungen hülf-
reichen Söhne, nicht den historischen Hergang der Sage in der
dramatischen Abwickelung der Tödtung dieser drei Opfer der
rächenden Götter: dies alles existirt für sie nicht; sie will uns
nur ein Abstraktum in idealer Bildung vorführen, den höchsten
physischen und Seelenschmerz des Mannes und zur
plastischen Darstellung dieses Abstraktums sind die Motive der
Laokoonsage entnommen, deren spezieller historischer Inhalt
uns bei dem ganzen Kunstwerke gar nicht weiter interessirt, als
daß wir nur die allgemeinen Bezüge zu kennen brauchen, welche
zwischen den vorkommenden Personen und zwischen Laokoon und
den erzürnten Göttern Statt finden. Deshalb steht es der an-
tiken Plastik auch vollkommen frei, zur Darstellung des idealen
Inhalts das tatsächlich Gegebene beliebig oder vielmehr ihrem
Zwecke am angemessensten zu verwenden und, unbekümmert um
historische Wahrheit, umzugestalten. Diese Freiheit der antiken
Plastik von realen Banden, diese ausschließliche Tendenz zur
bloßen Hervorhebung der idealen Bezüge, die einem factischen
Hergange zu Grunde liegen, läßt sich überall Nachweisen, selbst,
wenn eine Fülle von Personen, wie in der Niobidengruppe, in
jenem Wechselverkehre zu einander und zu anderen Mächten steht,
der sich auf feststehende, von der Sage gleichsam als historisch
festgestellte Thatsachen stützt. — Die moderne Plastik will jedoch
die historischen Grundlagen nicht ausschließlich als bloße Motive
einer idealen Darstellung gelten lassen, sondern will ihnen selbst
das Recht geben, Gegenstand der Darstellung zu sein: nicht
wird, wie bei der Antike, der geistige Inhalt'aus den Thatsachen
herausgeschöpft und diesem nun eine Form anerschaffen, in der
er zur idealsten Erscheinung zu gelangen vermag; sondern man
läßt den Thatsachen die Berechtigung ihrer realen Existenz und
trägt in sie den idealen Gehalt hinein, zu dessen Aufnahme sie
fähig sind, um hierdurch jene reale Berechtigung eben vollständig
zu besiegeln.
Diesem allem gemäß mußte Ferrari's Laokoon ein ganz
anderer werden, als der antike, wenngleich das Kompositions-
Material der Gruppe in beiden dasselbe ist: Laokoon in der
Mitte, zu den Seiten die Söhne, alle drei fast unbekleidet, die
beiden Schlangen und hinterwärts der Altar. Aber während es
der Antike um eine Verkörperung eines idealen Abstraktums, des
männlichen Schmerzes, zu thun war, haben wir hier die Ideali-
sirung einer realen Thatsache, wie die Sage sie als geschehen
berichtet, vor uns. Daher hält Ferrari sich streng an die Er-
zählung Virgils, so weit es nöthig ist, um nicht in Widersprüche
mit derselben zu gerathen, ohne aber dem Dichter in die grau-
sige Ausmalung des Details zu folgen. Die Schlangen hatten
zuerst die Söhne ergriffen und faßten den Vater erst, als er vom
Altäre den Söhnen, wiewohl zu spät, zu Hülfe eilt. Diesen
Moment des Angriffes der Schlangen auf Laokoon selbst hat
Ferrari aufgefäßt und in ihn die ganze Entwickelung der Kata-
strophe zu bannen versucht. Laokoon hat sich vom Altäre umge-
wandt; aber schon ist der Sohn zu seiner Linken als Leiche zu
Boden gesunken, während der zur Rechten dem Unterliegen nicht
mehr fern ist, und so sieht der Vater das Verhängniß mit uner-
bittlicher Gewißheit und Eile auf sich Hereinbrechen. Die höchste
Spannung des urplötzlichen Entsetzens, welches mit der Gefahr
zugleich deren Unüberwindlichkeit gewahrt und damit den Schluß-
punkt des geistigen Inhalts jenes Hergangs bildet, hinter
welchem nur noch die faktische Vollendung der Tödtung übrig
bleibt, ist zum ergreifendsten Ausdruck gelangt. Die eine Schlange
packt den Laokoon im Nacken. Während er mit der Rechten
 
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