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M 18.

Donnerstag, den 4. September.

1836.

Inhalt: Zwilchen Himmel und Erde. Erzählung von Otto Ludwig. — Die Wüstenharfe. Eine Sammlung arabischer Volkslieder. Von Dr. Julius
Altmann.

Zwischen Himmel und Erde.

Erzählung von Otto Ludwig..— Frankfurt a. M., Meidinger Sohn u. Comp.

„Zwischen Himmel und Erde ist des Schieferdeckers Reich- Tief
unten das lärmende Gewühl der Wanderer der Erde, hoch oben die
Wanderer des Himmels, die stillen Wolken in ihrem großen Gang."
So viel zur Erklärung des Titels. Aber mehr von dem Inhalt
des Buches mitzutheilen finden wir nicht rathsam, vielmehr empfeh-
len wir unserem geneigten Leser auf's Dringendste, das Buch selbst
zur Hand zu nehmen; er wird uns die Empfehlung danken, deß sind
wir gewiß, er mag übrigens mit unserem Urtheil übereinstimmen
oder nicht, denn ein ungewöhnliches und bedeutendes Werk wird er
jedenfalls darin erkennen. Nicht als ob wir fürchteten, dem Leser
durch Mittheilung der Fabel die Spannung der Erzählung zu rau-
ben; ist es doch vielmehr ein bedeutender Vorzug der Geschichte, daß
der Vers, es wagen durfte, das Seil der Spannung, woran der
Leser sonst bis zur Katastrophe festgehalten und fast nicht mehr in-
nerlich, sondern wie äußerlich „gefesselt" wird, zu zerschneiden, indem
er den Schluß der Ereignisse an den Anfang stellt, und dann den
Lauf derselben rückwärts aufnimmt. *) Das Interesse an einer-
poetischen Schöpfung, welches dem Leser, wie in den französischen
Romanen, nur durch die Spannung' auf die Katastrophe eingeflößt
wird, gleicht der Zuneigung, welche nur durch einen höllischen Liebes-
zauberlrank erzeugt worden ist; der Vers, aber sucht keine patholo-
gische, kaum eine sympathetische Thcilnahme, sondern eine reine,
freie, gleichsam intellektuale Liebe für sein Werk. Nicht was geschieht,
sondern wie und wodurch es geschieht bildet das Interesse; also die
psychologische Entwickelung der Charaktere und der innere Gang
der Ereignisse. Der hohe Grad von rein innerer Spannung, wel-
cher sich in der Nähe der entscheidenden Momente, obgleich wir den
Ausgang genau vorherwissen, dennoch erzeugt, ist eben so wohl-
thuend, als für diese Seite der poetischen Schöpfung belehrend.
Nichtsdestoweniger hat auch die Fabel selbst, von jener psychologischen
Entwickelung abgesehen, ihre große Bedeutung; gerade die Katastrophe
ist tief und gewaltig und im schönsten Sinne eigenthümlich. Der
endliche Sieg der sittlichen Idee, die Offenbarung der poetischen Ge-
rechtigkeit beschränkt sich meist auf das Dilemma, daß der Held ent-
weder tragisch seinen Untergang oder friedlich sein berechtigtes Ziel
erreicht und das gesuchte Lebensglück, namentlich Vereinigung in dcr
Liebe findet; auch hier spielt wesentlich ein Liebeskampf, und er-
schließt mit einem hohen Frieden; aber weder findet eine Vereinigung

der Liebenden, noch auch eine blasse, kranke und thateulosc Resigna-

>

*) Zuviel des Guten aber und vom Nebel ist es, daß die Erzähuug zwie-
fach zurückgreift; erst auf den langen fünfzigjährigen und dann noch einmal auf
einen vierjährigen Zeitraum, ehe wir in eigentliche Gegenwart eintreten.

Literatur-DlaN.

tion statt; Wohl siegt die sittliche Macht, aber nicht dadurch, daß sie
dem Helden Glück gewährt, sondern darin, daß die in Reinheit
Kämpfenden ihre Reinheit selbst als Siegespreis erhalten, daß ein
hohes Gemüth in sich selber seinen Lohn findet, daß ein großer
Charakter noch größer wird, und daß ans dem frühen und heißen
Lebenskampf ein langes, sittenreines und thatenreiches Leben entspringt-
Wir wüßten nicht leicht ein poetisches Werk zu nennen, aus welchem
so mächtig und so deutlich der Grundgedanke hervorlcuchtete: daß
die Erfüllung der auch noch so berechtigten Wünsche nicht die höchste
Erfüllung des Lebens sei, daß der Sieg des Guten nicht im ge-
fundenen Glück, sondern in der vollführtcn That der, wahrhaft
vollendete ist.

Die Läuterung des Charakters im Helden und dessen thaten-
volle Bewährung durch ein langes Leben bietet zunächst nur eine
ethische Befriedigung, ist aber kein Gegenstand ästhetischer Anschau-
lichkeit; diese findet daher auf die glücklichste Weise ihre Rechnung,
indem Eine heroische That, als Katastrophe des Kampfes, an die
Spitze dieses edlen Lebens tritt, welche noch dazu den Vorzug hat,
nicht auf ungewöhnliche und außerordentliche Ereignisse sich zu be-
ziehen, sondern die einfache, aber in sich vollkommene und ideale Er-
füllung einer bürgerlichen Berufspflicht, freilich mit kühner Einsetzung
des Lebens, zu bestehen; der muthbegabte und opferfähige Schiefer-
decker rettet die Stadt vor der cintret'enden Feuersbrunst mit höch-
ster Gefahr seines eigenen Lebens.

Daß hier die edelsten Kräfte des menschlichen Geistes in der
einfach bürgerlichen Bcrufssphäre sich bewegen, ohne den Helden
irgendwie aus derselben heraus zu versetzen, mag als ein besonderer
Vorzug erwähnt werden. — Fraglich könnte es erscheinen, ob der
Dichter Recht gethan, seinen Helden einen, wenn auch nur passiven
Antheil an dem Selbstmord des Bruders tragen zu lassen; aber uns
scheint diese so höchst unwillkürliche Schuld in vollem Maße gesühnt,
indem er nicht bloß den Besitz — daß Weib — des Bruders nicht
als Erbe antritt, sondern auch alle Pflichten desselben, die jener
schon beim Leben versäumt hatte, übernimmt und getreulich erfüllt;
er vertritt und durchlebt so nicht bloß seinen eigenen, sondern auch
seines Bruders Lebensberuf.

Ter Nachdruck, welchen wir hier auf die ethische Bedeutung
des Werkes gelegt haben, bedarf keiner Vertheidigung; er entspricht
der Auffassung poetischer Schöpfung, welche auch in diesen Blättern
vielfach hervorgetrcten und noch mehr den allgemeinen Charakter
der öffentlichen Kritik in den letzten Jahren, im Unterschiede von frü-
heren Zeiten, deutlich kennzeichnet. Aber um so mehr ergreifen wir
die Gelegenheit zu der Frage: woher mag es kommen, daß man in
neuerer Zeit bei weitem mehr als in früheren die sittliche Signatur-
poetischer Werke vor Allem in'S Auge faßt? daß fast mehr noch als
der ästhetische Maßstab der ethische Prüfstein den Werth derselben

> bestimmen soll? — Gewiß kann man vielfache Gründe zur Bcaut-

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