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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 5.1858

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Dramaturgische Lesefriichte. *

Karl Jmmermann an Michael Beer.

Düsseldorf, 16. April 1829.

—' — Die Frage, die Sie mir in Beziehung auf die Anfoderungen
der historischen Schule au die Tragiker vorlegen, hat vielfältig mein Nach-
denken beschäftiget, und das Resultat der Erwägungen pro et contra ist
folgendes gewesen. Zuvörderst 'möchte ich nicht mit Ihnen annehmen,
daß das Publikum im Großen jenen historischen Durst empfinde. — Sie
wissen von der Geschichte en detail zu wenig und sind zufrieden, wenn
sie ein geist- und empfindungsvolles Werk empfangen. Ich habe den
Anspruch immer nur bei einem Conglomerat von Aesthetikern wahrge-
nommen, deren point de ralliement in Solger's Worten in den Wiener
Jahrbüchern (bei der Recension von A. W. Schlegel's Vorlesungen über
dramatische Literatur), in Tieck's Aeußerungen bei Gelegenheit der
Herausgabe der Kleist'schen Werke und andern' zufällig hiugeworfenen
Worten einiger Stimmführer liegt. Es ist also nach Meiner Meinung
zuvörderst keine Gefahr vorhanden, daß eine, die Geschichte nicht mit
buchstäblicher Treue wiedergebende Tragödie, wenn sie nur sonst gut und
tüchtig gearbeitet ist, deshalb verworfen werden sollte; denn nicht der
Kunstrichter, sondern das Volk entscheidet, wie Sie wissen, bei uns über
das Glück eines Werks. Wäre aber auch' wirklich jene Gefahr für den
Augenblick vorhanden, so könnte uns das, wie ich glaube, nur veran-
lassen, zu fragen: Haben die Anfoderer Recht? Und in wie weit haben
sie Recht? Denn es ist mehr als je gegenwärtig der Zeitpunkt, wo
man gegen jede ungerechte Prätention entschieden Front machen mutz.
Und die Wahl historischer Stoffe — wo uns immer schon eine fest aus-
geprägte Handlung entgegentritt und die Hälfte der Arbeit uns ab-
nimmt — ist von unschätzbaren Vortheilen begleitet, darf uns nicht
durch aus der Luft gegriffene Beschränkungen verleidet und verkümmert
werden. — Recht hat man nur, wie ich meine, wenn man von dem
Dichter verlangt, daß er das Ereigniß, welches er behandelt, nicht ge-.
radezu auf den Kopf stellen, nicht ganz willkürlich einen Sinn hiueiu-
legen solle, den kein vernünftiger Mensch darin finden kann; wenn man
z. B. Wallenstein als Exempel, wie Fürsten treuen Dienern für ihre
Dienste lohnen, hinstellen wollte. — Unrecht sind dagegen nach meiner
Meinung alle Forderungen historischer Wahrheit en detail, wenn sich
Nachweisen läßt, daß der Dichter bei der Abweichung en detail einen
poetischen Zweck vor Augen gehabt habe. Betrachten wir ein Ereigniß,
eine Handlung in der Wirklichkeit, so finden wir, daß die Bedeutung
derselben sich eigentlich durchaus nicht erschöpfend darstelleu läßt. Die
Beziehungen, worin jedes, auch , das unbedeutendste Ereigniß zu den
Prä-, co-und postexiftirenden Dingen steht,, sind schlechthin (verzeihen Sie
dieses schlechte philosophische Wort) unendlich; es würde ganz unmöglich
sein die Beziehungen, unter denen das gewöhnlichste Tagesereigniß, ein
Spaziergang, eine Visite sich denken läßt, zu erschöpfen. Die Ge-
schichte sucht hinter dieser unendlichen Fülle und Mannichfaltigkeit der
Wirklichkeit herzukommeu, es gelingt ihr freilich mit allem Prägmaticis-
mus nur unvollkommen. — Ganz andere Rücksichten hat der Dichter
zu nehmen. Lächerlich wäre es, wollte man'glauben, er könne uns die
Dinge, so wie sie.' waren, in jeder Beziehung vollständig und wahr nach-
schaffen. Nein, er-will ein Bild des Geschehenen geben, zum Bilde
gehört die Begrenzung durch den Rahmen, zum Bilde gehört der Ge-
sichtspunkt, die Gruppirung, die bestimmte Beleuchtung. Daß alles
dieses vorhanden sei, ist es nothwendig, daß .er eine Hauptbeziehung
des Factums herausgreife, diese darstelle, Alles, was sonst sich bei der
Betrachtung des Stoffs ihm aufdrängt, verschweige, sofern es geradezu
der Darstellung jener Hauptbeziehung widerstrebt, oder als das letzterer
subordinirte Mittel behandle, wenn ^ine Unterordnung sich denken
läßt. Wer diese Freiheit dem Dichter nicht zugesteht, der verräth, daß
er von der organisch schaffenden künstlerischen Stimmung keinen Begriff
h-at, und daß er mit einer andern als der ästhetischen Disposition zu
dem Kunstwerke trete. Nur mit jener Freiheit können Kunstwerke erzeugt
werden, aus denen ein Plan hervorleuchtet, und die den Zuschauer mit
einer harmonischen Empfindung entlassen. Dramatisirte Geschichte ist
keine Tragödie; ich kann mir nicht helfen, mir erscheint vieles in Shake-
speares historischen Stücken nur wie dialogisirte Chronik und als weit
unter dem Werthe seiner andern Werke stehend. — Ich halte es noch

* Aus Michael Beer's Briefwechsel. Heransgegeben von Eduard-von Schenk. 1837.

für dienlich, ein Paar Worte über den oft von dieser Seite angefochtenen
Egmont zu sagen, da er recht eigentlich meine Ansichten bestätigt. Es
lassen sich für den Kampf der Niederlande gegen Spanien viele Gesichts-
- punkte aufsinden: - der religiöse Impuls - der aus dem natürlichen
Freiheitsgefühle zu reich gewordener abgesonderter Provinzen hervor-
gehende Republikanißmus u. s. w. konnten das Motiv der Tragödie wer-
den. Goethe sah nun nach seiner Natur, die ihn hauptsächlich zum Naiven,
Sentimentalen, Romantischen treibt, die Sache anders an. Ich bemerke
in seinem Trauerspiele nichts als die Darstellung der liebenswürdigen
Unbesonnenheit eines rührigen, jugendlichen Volkes, welches durch seine
Eulenspiegeleien die steife, alternde Despotie irritirt und sich selber die
Falle gräbt. Die religiöse Begeisterung, die große Frage um die Rechte
des Volks, diese Dinge stehen ausdrücklich im Hintergründe. Das Ge-
spräch Egmont's mit Alba ist in mehr als einer Hinsicht ein Scheingespräch.
Als der Gipfel des Sanguinismus steht nun Egmont da; dürfte ihm
das Liebchen fehlen, wenn das Bild wahr und vollständig sein sollte?
Die Gemahlin und die 9 Kinder würden einen sonderbaren Contrast
nttt den übrigen Farben des Gemäldes gemacht haben. Unwahr kann
man nun, wenn man die Geschichte des Abfalls der vereinigten Mieder-
lande kennt, nicht gerade die Goethe'sche Ansicht nennen, und so hat er
denn , wie ich glaube, Recht gehabt, ihr gemäß Alles in der Tragödie
zu bilden, wenn es freilich immer sonderbar bleibt, daß er in dem be-
ginnenden . Kampfe eines Volkes und seiner Helden nichts weiter sah als
eine Etourderie; und nun genug, sonst gerathe ich zu tief in eine Ab-
handlung. — — —

Derselbe an Denselben. '

, . Den 21. Febr. 1830. .

-Der Pfeiler, die Osteologie alles Dramatischen, wenigstens

bei den nördlichen Völkern (und doch Wohl auch bei den südlichen), ist
die Tragödie, und in dieser wieder die mythische Helden- und die Staats-
und Bolkstragödie.- Diese kann aber deshalb nie ein im Ganzen und
Großen nachhaltig wirkendes Interesse bei uns gewinnen, weil uns das
Gefühl' des Heldenthnms, das Bewußtsein eines Staats und Volks
mangelt. Wie sollen die Menschen die Wichtigkeit des Streits um eine
Krone begreifen, sie, denen es ja im Grunde ganz gleichgültig ist, wer
bei ihnen die Krone trägt, wenn sie nur zu Hause brav Kinder zeugen
und ihre. Kost essen dürfen? Die' höchsten tragischen Motive sind also
für uns schon verloren, wenigstens nicht von der Bedeutung, wenn es
zur Oeffentlichkeit der Dichtung kommt, die sie doch haben müssen, sollen
sie die eigentlich regierenden sein. Das Häusliche, Sentimentale, ist
unser Lebenselement, darin sind wir heimisch; deshalb ist die Familien-
tragödie diejenige, - welche .allein bei uns zur vollkommenen Anschauung
gebracht werden kann. In dieser Sphäre sind Arbeiten möglich wie
Othello, Romeo und Julie, und — Antigone, wenn man diese mit
hinzurechnen will; allein eine ganze Reihe solcher und nur solcher Stücke
würde denn doch die englische und griechische Bühne nicht zu jener idealen
Größe erhoben haben, die wir au ihr.bewunderu.

Wenn man diesen Gesichtspunkt auffaßt, und er scheint mir ein
sehr einfacher zu sein, so weiß mau auch, was man von dem endlosen
Gerede über den mißlichen Zustand unsers Theaters zu denken hat.
Nicht die Schauspieler, nicht die Dichter, nicht das Theaterpublikum find,
jedes für sich, am Verfalle schuld, sondern alle zusammen können kein
Theater Hervorbringen, wo der Boden fiir das Gerüste fehlt. Selbst
unsere größten Geister mußten an das gute Herz der lieben Landsleute
klopfen, damit Herein! gerufen wurde. Sie, und mich, und vielleicht
noch ein paar Hundert in Deutschland entzückt Wallenstein und. das be-
wegte öffentliche Leben um ihn —- die übrigen Millionen sähen am liebsten
Max und Thekla allein. Was wäre Egmont ohne Klärchen! und wie
schlecht stände es um die Stuart, wäre sie nichts als die zu Boden ge-
tretene Majestät, wäre sie nicht die liebenswürdige galante Sünderin!
Hiermit ist auch das Einmischen sentimentaler Motive, welches sich Goethe
und Schiller bei großen Staatsactionen erlaubten, gerechtfertigt,- wenig-
stens vollkommen entschuldigt. Sie wären ohne diese Zuthat ganz un-
verständlich geblieben, und der Tadel, den man deshalb über sie ausge-
schüttet hat, beweist nur eine andere liebenswürdige Eigenschaft der
Deutschen, nämlich die, von den Dichtern immer das Unmögliche zu
fordern, wahrend man ihnen weder Stützpunkt noch Vorschub ge-
währt. —

Verlag von Ebner & Senüert in Stuttgart. — Druck der I. G. Spraudel'schcn Buchdruckerei daselbst.

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