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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 5.1858

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https://doi.org/10.11588/diglit.1207#0046
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Nedigirt von Paul Heyse in München.

/ ' ' .

Die Gefahren siir die wahre Sittlichkeit durch die
falsche Sittlichkeit in der Poesie.

Don I. SB, Loebell.

Ich habe in dem eben aus gegebenen zweiten Bande
meiner Entwickelung der neuern deutschen Poesie, welcher
der Betrachtung eines mit Unrecht in Vergessenheit gera-
thenen Dichters, nämlich Wielands/ gewidmet ist, die Frage
zu erörtern gehabt: ob die Poesie die Darstellung der sinn-
lichen Liebe überhaupt in ihren Bereich ziehen darf, und
wenn es ihr verstattet ist, welche Grenzen sie sich dabei
zu stecken hat.. Ich habe es versucht, diese , vom
ästhetischen und vom historischen Standpunkte zu beleuchten,
und mich im Ergebniß nicht anschließen können an die
ganze Strenge unserer Tage, welche hier mit den schärfsten
V erd ammungsurth eilen gleich bei der Hand ist, und schon
vor jedem derben Ausdrucke scheu zurückweicht.

Haben denn aber gerade unsere Tage zu dieser Strenge
ein besonderes Recht? Die Erörterung dieser Frage hätte
ich gern noch angeschlossen. Aber ich wäre damit noch
weiter von dem eigentlichen Gegenstände meines Buches
abgekommen, als durch jene Untersuchung schon geschehen
mußte. Möge denn folgende Ergänzung in diesen Blättern
ihre Stelle finden.

Die. Sache steht so. Es könnte Jemand kommen und
sagen: wenn es einem künftigen Goethe verwehrt sein muß,
Römische Elegien zu dichten, und einem künftigen Sterne,
seinen Humor auf die Mysterien des Zusammenhangs zwi-
schen der seelischen und der sinnlichen Liebe zu erstrecken,
so mag die Poesie verlieren, aber was sie verliert, gewinnt
die Moral, und so ist die Menschheit in offenbarem Vorth eil.

Ich könnte diesen Satz anfechten und sagen: was der
echten Poesie mit Recht eignet, kann mit der Moral gar
nicht in Widerspruch stehen. Aber es sei so, wie behauptet
ist. Es sei ferner, daß die Pädagogik ein Recht habe,
sich einzumischen, und von der Poesie zu verlangen, daß
diese sie nicht störe in ihrem sorgfältigen Bemühen, Alles,
was der Keuschheit des Sinnes irgendwie Gefahr bringen
kann, von den Seelen ihrer Zöglinge fern zu halten. Jean
Paul nennt in der Levana als ein Vorbild, dem die Mäd-
chenerziehung nachzueifern habe, Magdalene Pazzi (eine

Literaturblatt. 1658.

heilig gesprochene Carmeliterin des sechzehnten Jahrhunderts),
weil sie auf ihrem Todtenbett gesagt hat, sie wisse nicht,
was eine Sünde gegen die Keuschheit sei. Auch darüber
ließe sich zwar streiten, ob die Erziehung es in ihrer Macht
habe, durch Veranstaltungen und Verheimlichungen irgend-
welcher Art die glückliche Unwissenheit zu erzielen, deren
jene Nonne sich ri'chmte, und ob eine solche Unbekanntschaft -
überhaupt einen Maßstab abgeben könne für die Reinheit
des Sinnes; wie ich wenigstens durchaus nicht glauben
kann, daß die Großmütter der gegenwärtigen Generation,
welche am Tom Jones ein argloses Wohlgefallen hatten,
schlimmer waren als ihre Enkelinnen, für welche die Lec-
türe dieses Meisterwerks verpönt ist. Aber es sei, wie die
strenge Pädagogik verlangt.

Dann aber wird man an ein Zeitalter, welches diese
Forderungen streng durchgeführt wissen will, die Gegen-
forderung auf das entschiedenste zu stellen berechtigt sein,
daß es für die poetische Darstellung der innern Be-
ziehungen der Liebesverhältnisse denselben Grad von em-
pfindlicher, jede Berührung mit dem Unreinen fliehenden
Reizbarkeit bewähre. Die Gefahr, durch eine solche Flucht
in eine Prüderie zu verfallen, schlimmer als das Uebel,
dem man entgehen will, ist ohnehin schon groß genug; ohne
jene strenge Keuschheit in den innern Beziehungen ist sie
vollends höchst bedenklich.

Ich habe in der gedachten Erörterung das Büchlein
des Pfarrers Rietmann über Shakspeares religiöse und
ethische Bedeutung und einen Ausspruch Lessings angeführt.
Jener nimmt den großen Dichter gegen die Anklage, daß
seine Nacktheiten, Derbheiten und witzigen Zweideutigkeiten
die wahre Ehrbarkeit verletzen, gründlich und beredt in
Schutz; dieser behauptet, daß diejenigen, welche sich am
meisten durch die groben, plumpen Worte, die das Unzüch-
tige geradezu ausdrücken, beleidigt finden, oft weit nachsichtiger
gegen die schlüpfrigsten Gedanken sind, wenn sie nur in
keine anstößige Worte gekleidet erscheinen. Damit hat Lessing
eine schleichende Krankheit unserer Tage bezeichnet, und eine
Krankheit nicht bloß der Leser, sondern auch der Schrift-
steller. Denn manche glauben sich berechtigt, starke sinn-
liche Begierden als Motive gebrauchen, ja sie in den Mit-
telpunkt ihrer Prodnete rücken zu dürfen; wenn fie nur das
in Worten Unanständige vermeiden, und unter ihre ver-

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