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Warlich-Schenk, Brigitte; Landesamt für Denkmalpflege Hessen [Hrsg.]
Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland: Baudenkmale in Hessen: Kreis Kassel: T. 1 — Braunschweig: Vieweg, 1988

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https://doi.org/10.11588/diglit.48766#0014
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Einführung

Vorbemerkung

Die Geschichte des ländlichen Raums liegt auch heute noch
häufig im Dunkeln. Zwar verfügen wir seit der Christiani-
sierung über schriftliche Quellen, die uns über Besitzverhält-
nisse informieren und somit Rückschlüsse auf Lebensum-
stände, vor allem Machtverhältnisse, ermöglichen. Letztlich
aber geben uns diese Quellen jedoch nur spärliche Einblicke
in das Leben unserer Vorfahren. Während seit der frühen
Neuzeit in den Städten in Chroniken die Ortsgeschichte fest-
gehalten wurde, liefern in den Dörfern in der Regel die Kir-
chenbücher zumindest statistisches Material über Familien-
zugehörigkeiten und Bevölkerungsentwicklung.
Mundart und Brauchtum, besonders aber die historischen
Gebäude und Ortsbilder, können Spiegel und Zeugnisse über
das Leben unserer Vorfahren im ländlichen Raum sein. Aber
ihnen allen droht Gefahr. Mundart und Brauchtum geraten
vielerorts allmählich in Vergessenheit. Die historischen Ge-
bäude sind durch Leerstand und Veränderungsdruck in ihrem
Bestand stark gefährdet. Die rapide Strukturveränderung in
der Landwirtschaft, die Zentralisierung in den städtischen
Zentren seit den 60er Jahren des 20. Jh. hatten zur Folge, daß
insbesondere landwirtschaftlich genutzte Gebäude funktions-
los wurden. Gesteigerte Ansprüche an den Wohnstandard und
kurzlebige Moden führten zu erheblichen Umbaumaßnah-
men bis hin zum Abbruch und Neubau. Mit dem Bauboom
der letzten 30 Jahre wuchs die Palette der Baustoffe und Bau-
teile erheblich. Bauteile wie z. B. Fenster und Türen, bislang
vom örtlichen Handwerker gefertigt, liefert seither oft der
Baustoffsupermarkt. Das Handwerk entwickelte sich vieler-
orts zum Handlanger der Industrie und trug mit dazu bei, daß
zahlreiche Altbauten durch unsachgemäße Modernisierun-
gen mit genormten, modernen Baumaterialien entstellt bzw.
zerstört wurden. Hierdurch ging und geht auch künftig die
Unverwechselbarkeit und regionale Prägung der historischen
Orte allmählich verloren.
Noch bis ins 19. Jh. hinein kennzeichneten den Hausbau das
Beharren an der jahrhundertealten Bautradition und die Be-
schränkung auf die wenigen, in der unmittelbaren Umgebung
vorkommenden Baumaterialien. Erschreckend ist, daß es z. B.
im Altkreis Hofgeismar kaum noch ein Kulturdenkmal gibt,
das nicht durch moderne Baustoffe verfälschend beeinträch-
tigt ist. Noch immer sind zahlreiche Fachwerkhäuser unter der
in den 60er/70er Jahren aufgebrachten Plattenverkleidung
versteckt (obwohl die Mode, Fachwerkhäuser so als Neubau
zu tarnen längst vorbei und bekannt ist, daß derartige Verklei-

dungen in der Regel zur Zerstörung des darunter befindlichen
Fachwerks führen).
Die im Oberweserraum typische Dachdeckung mit roten Ton-
ziegeln oder Wesersandsteinplatten ersetzen heute oft schwar-
ze Betondachsteine oder grauer Kunstschiefer. Das schwarze
oder graue Dach wirkt in dieser Gegend fremdartig, obendrein
ist das Material nicht patinierungsfähig, wirkt kalt und steril.
Moderne Hauseingänge aus dem Baustoffsupermarkt, häufig
aus Aluminium und Glas mit entsprechendem Vordach, erset-
zen historische Holztüren. Die Energiekrise der 70er Jahre
führte dazu, daß die ursprünglichen kleinteiligen Holzfenster
mit ihren zwei Fensterflügeln, dem Oberlicht und Sprossen
durch isolierverglaste neue Fenster ersetzt wurden, obwohl
die alten in der Regel noch gut erhalten waren und energe-
tisch auch hätten nachgerüstet werden können, ohne das
historische Fenster zu zerstören. Die „neuen“ Fenster waren
bzw. sind in der Regel einflügelige Fenster ohne Gliederung,
häufig wurden auch zwei zu einem großem Blumenfenster zu-
sammengefaßt. Besonders schmerzlich ist, wenn in einem
Fachwerkhaus, also einem Holzhaus, die Fenster auch noch
aus Kunststoff sind. Dort wo früher Holzklappläden schütz-
ten, befinden sich heute meist Rolladenkästen.
Auch im Inneren der Gebäude gingen und gehen zahlreiche
erhaltenswerte Details verloren. So ist davon auszugehen, daß
fast in jedem Fachwerkhaus unter den Tapeten mehr oder
weniger aufwendige Schablonen- und Dekorationsmalereien
zu finden sind, da diese bis ins frühe 19. Jh. weit verbreitet
waren. Alte Füllungstüren mit Beschlägen, breite Dielen- und
Steinfußböden, Stiegen und Ofennischen verschwinden nach
wie vor kontinuierlich.
Auch der dörfliche Freiraum wurde in den letzten Jahr-
zehnten erheblich überformt. Anstelle von Vorgärten, Haus-
bäumen, gepflasterten Hofplätzen finden wir heute meist
pflegeleichte Asphaltflächen als Stellplätze für den PKW.
Frühe Fotografien wie z. B. die Aufnahmen von L. Bickell
geben wertvolle Hinweise über das dörfliche Leben im frü-
hen 20. Jh.
Schwerpunkt der folgenden Ausführungen ist deshalb der tra-
ditionelle Hausbau im Oberweserraum und die Besonderhei-
ten, die ihn kennzeichnen. Die territoriale Entwicklungs-
geschichte wird insofern angesprochen, als sie einen Einblick
in die siedlungsgeschichtliche Entwicklung des Gebietes gibt.

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