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handhabt er breit das Mittel der zerlegten Gestaltkontraste, und die viel-
stimmige Fuge der Blick- und Gestaltschichten wird gespielt. Die Kontraste
sind durch kurvige Gelenke verbunden, schwingen ineinander und übermusi-
zieren sie. Ein polyphoner Stil voller Gegensätze. Der Doppelsinn der Formen
wird benutzt, d. h. eine Form kann gegenständlich vielerlei bedeuten.
Im Jahre 1928 brachte Picasso eine Reihe kleiner Gemälde aus Dinard zurück,
die Strandszenen darstellen. Dann arbeitet er den Zyklus der drei Interieurs,
darunter „Der Maler und sein Modell“ (Abb. 338). Das Halluzinative ist knapp
tektonisiert. Man kann von einem Minimum der statischen Formen und Ak-
zente, die der visionären Flucht widerstanden, sprechen. Gegen die Flut und die
Sprünge des seelischen Strömens errichtet man eine statische Formbarriere.
Nun ist die Barrikade der konservativen Dinge weggefegt, man ist dem Ge-
dächtnis der Übereinkünfte entrückt und einem Neuen asketisch hingegeben,
das gleichzeitig wie ältestes Sehen erscheint. Man benutzt ein Minimum hand-
werklicher Übereinkünfte; denn das Nichts ist Voraussetzung aller Schöpfung.
Der Gegenstand behinderte die freie Gestaltbildung, da er die seelischen Pro-
zesse dualistisch spaltet und somit schwächt.
In diesen Bildern ist das tautologische Konservative vermieden, und die
biologisch gewohnten Gegenstandsformen werden nicht wiederholt. Nun stehen
subjekt-identische Bildgeschöpfe da, die dem vermischten Sehen enthoben sind.
Unmetaphorische Bilder werden geschaffen, die keines Beweises bedürfen, da
man der Gefangenschaft durch die Dinge entkommen ist. Hie und da steht noch
eine Spur von Dinglichem, gegensätzliches Paradox.
Das den dinglichen Übereinkünften noch nicht angepaßte Imaginative ist
durch keinen Vergleich beweisbar, die langsamere, allegorisierende Vernunft
wird später erst anbequemt.
Picasso hat nun die Konvention des mittelbar Wirklichen überrannt, das
noch immer wie eine transzendente Substanz fetischistisch angebetet wird.
Ängstliche sprechen vielleicht vor diesen Bildern vom Normalen, das uns gerade
als abgestorben und mechanisierte Abstraktion erscheint. Mit dem Normalen,
dieser demokratischen Fiktion, vermag man das Mittelmäßige zu verteidigen
und zum Wertmesser umzufälschen.
In diesen Bildern steckt menschlich sehr Wichtiges. Man übernimmt nicht
mehr demütig das Gegebene. Das Halluzinative, oder Unbewußte arbeitet
nicht mehr als erstarrte Konstante (wie bei Freud), sondern gerade als
Kraft alles Wechsels. Statik heißt hier heftige Komprimierung langer, doch
rapider Prozesse, wogegen dann mit um so stärkerer Bewegtheit reagiert wird.
Bilder sind eben die Carrefours seelischer Erlebnisse und durch Wahl bestärkt
man im Guten oder Üblen die wichtigen Momente.
Die Ateliers zeigen eine strenge, geradezu archaische Struktur, die gegen
schweifenden, animistischen Wahn verteidigt. Trotzdem sind solche Formen
nicht rückfällig geartet, denn sie gewähren neue Raumformen und Zusammen-
hänge. Die geometrische Pinie ist eindeutig definierbar, damit man schnell die

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