DER
FUTURISMUS
Der Futurismus, eine italienische Angelegenheit, war das Jugenderlebnis der
Marinetti, Carrä, Severini, Boccioni. Das erste Manifest wurde im „Figaro“ am
20. Februar 1909 veröffentlicht. Der Futurismus bedeutete Aufruhr gegen die
Virtuosen des „Passeismus“, die Trödler der Vergangenheit. Dem akademischen
Platonismus —-verstaubtem Renaissance-Nachlaß —-, stellte man die „Vitesse“,
die Bewegung, entgegen, dem Rationalismus die pragmatische These, daß
Vernunft nur in der Handlung bestätigt werden könne, der sie als geringes
Mittel diene, daß jedoch jede Erkenntnis oder Form, die nicht mehr mit dem
aktuellen Leben in Übereinstimmung stehe, tödlich lähme.
Italien dämmerte nebenhin, zu antiquierter Provinz herabgesunken. Car-
ducci, Pascoli, d’Annunzio waren die Dichter, Segantini, Fattori und Rosso die
bildenden Künstler vor dem Futurismus. Die Dichter träumten oder dekla-
mierten rückgewandt, und d’Annunzio, der anscheinend Moderne, genoß nach
französischen Rezepten sensualistisch die Vergangenheit; trotzdem die Gebärde
aristokratisiert war, spreizen sich Kommis und Friseure zwischen mufügen
Gipsabgüssen. Die rhetorisch übersteigerte Erotik d’Annunzios war faux mo-
derne; die Futuristen bekämpften sie höhnisch. Durch Segantini und Fattori
sprachen Millet, Courbet und farbendivisionistische Trucs; Rosso experimen-
tierte aktueller, er bildhauerte in Resten von Luminarismus. Ringsumher
schnurrten bildabstaubende Archivare, Dante-Kommentatoren, Amateure,
Tenöre, professorale Lokalgrößen mit Schlapphut, das rhetorische Gewimmel
der literarischen Leichenbitter einer ertragreichen Vergangenheit. Nichts
ist peinlicher als eine große Vergangenheit, die auffrißt oder ernährt; man
war Erbe, anerkannt von aller Welt, und vor lärmender Erinnerung war
die Gegenwart verstummt; man war rückblickend vorhanden und sonnte
sich bequem. Man hatte die bewunderte Leistung vorgefunden und wahrte
sie am besten, indem man das Neue, die Gegenwart, mied. Doch Über-
lieferung ist anderes als beredsames Vergöttern des Vergangenen durch Frem-
denführer und Akademiker. Überlieferung im Sinne geschichtlicher Gebunden-
heit besaß man nicht; vielmehr lastete die Geschichte als überlegenes Vorbild
und verhinderte frische Regung. Man war intellektueller Rentner; Entdeckung
war fast gleichbedeutend mit Wiederünden einer historischen Nuance. Er-
strebenswert unerreichbares Ziel war das Vergangene. Man ignorierte sich, den
provinziellen Kleinbürger, der erdrückt im Schatten der Dome seinen Kaffee
trank; es war peinlich, das Volk Europas mit legitimen Beziehungen zur Antike
zu sein; man war staatlich anerkannter Erbe, und hiermit waren Würde und
9 Einstein, 20. Jahrh. 3. Aufl.
129
FUTURISMUS
Der Futurismus, eine italienische Angelegenheit, war das Jugenderlebnis der
Marinetti, Carrä, Severini, Boccioni. Das erste Manifest wurde im „Figaro“ am
20. Februar 1909 veröffentlicht. Der Futurismus bedeutete Aufruhr gegen die
Virtuosen des „Passeismus“, die Trödler der Vergangenheit. Dem akademischen
Platonismus —-verstaubtem Renaissance-Nachlaß —-, stellte man die „Vitesse“,
die Bewegung, entgegen, dem Rationalismus die pragmatische These, daß
Vernunft nur in der Handlung bestätigt werden könne, der sie als geringes
Mittel diene, daß jedoch jede Erkenntnis oder Form, die nicht mehr mit dem
aktuellen Leben in Übereinstimmung stehe, tödlich lähme.
Italien dämmerte nebenhin, zu antiquierter Provinz herabgesunken. Car-
ducci, Pascoli, d’Annunzio waren die Dichter, Segantini, Fattori und Rosso die
bildenden Künstler vor dem Futurismus. Die Dichter träumten oder dekla-
mierten rückgewandt, und d’Annunzio, der anscheinend Moderne, genoß nach
französischen Rezepten sensualistisch die Vergangenheit; trotzdem die Gebärde
aristokratisiert war, spreizen sich Kommis und Friseure zwischen mufügen
Gipsabgüssen. Die rhetorisch übersteigerte Erotik d’Annunzios war faux mo-
derne; die Futuristen bekämpften sie höhnisch. Durch Segantini und Fattori
sprachen Millet, Courbet und farbendivisionistische Trucs; Rosso experimen-
tierte aktueller, er bildhauerte in Resten von Luminarismus. Ringsumher
schnurrten bildabstaubende Archivare, Dante-Kommentatoren, Amateure,
Tenöre, professorale Lokalgrößen mit Schlapphut, das rhetorische Gewimmel
der literarischen Leichenbitter einer ertragreichen Vergangenheit. Nichts
ist peinlicher als eine große Vergangenheit, die auffrißt oder ernährt; man
war Erbe, anerkannt von aller Welt, und vor lärmender Erinnerung war
die Gegenwart verstummt; man war rückblickend vorhanden und sonnte
sich bequem. Man hatte die bewunderte Leistung vorgefunden und wahrte
sie am besten, indem man das Neue, die Gegenwart, mied. Doch Über-
lieferung ist anderes als beredsames Vergöttern des Vergangenen durch Frem-
denführer und Akademiker. Überlieferung im Sinne geschichtlicher Gebunden-
heit besaß man nicht; vielmehr lastete die Geschichte als überlegenes Vorbild
und verhinderte frische Regung. Man war intellektueller Rentner; Entdeckung
war fast gleichbedeutend mit Wiederünden einer historischen Nuance. Er-
strebenswert unerreichbares Ziel war das Vergangene. Man ignorierte sich, den
provinziellen Kleinbürger, der erdrückt im Schatten der Dome seinen Kaffee
trank; es war peinlich, das Volk Europas mit legitimen Beziehungen zur Antike
zu sein; man war staatlich anerkannter Erbe, und hiermit waren Würde und
9 Einstein, 20. Jahrh. 3. Aufl.
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