Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
RUSSEN

MARC CHAGALL
Russische Künstler im Westen, das ist nicht sehr alt. Als der russische Begas,
Antokolsky, in Paris saß, wer kümmerte sich darum? Im achtzehnten Jahr-
hundert war Rußland das weite Importland für französische Malerei und ita-
lienische Architektur; die Verwestlichung Peters hatte unter der großen Ka-
tharina gesiegt, Byzanz war Paris und Rom unterlegen. Doch aus Rußland
selbst kam nun kaum Eigenes hervor. Die Russen saßen als Schüler bei Dela-
roche oder Meissonnier, in den Ateliers der Piloty und Makart. Verspätet nahm
man den naturalistischen Dreh auf, mehr aus politischen Erwägungen als aus
malender Einsicht. Courbet, Munkacsy herrschten bei den Ambulanten, deren
Meister Rjepin war; es war Malerei für rührselig Liberale. Dann kamen die
russischen Impressionisten, darunter Serow, der Moskauer Porträtist. Gegen
die Sujetmalerei der Rjepin-Leute revoltierten die Jungen vom Mir Iskoustwa;
das Ergebnis war Djagilew mit dem russischen Ballett und zu Tode gehetzte
russische Volkskunst. Man entdeckte die aus politischen Gründen vergessenen
Maler des achtzehnten Jahrhunderts wieder, die Schönheit der Petersburger
Architektur. Somow archaisierte mit Beardsleyschen Behelfen; man stöberte
auf der Suche nach einer nationalen Kunst die Volkskunst auf und entpumpte
ihr Buntheit. Die drei ersten Russen, die, abgesehen von Bakst, dem peinlich
parfümierten Dekorateur, erfolgreich vorstießen: der theoretische, radikale
Moskauer Kandinsky, der findige, anpassungsfähige Ukrainer Archipenko, der
geschichtenreiche Jude Chagall. Chagall zeigt wie viele Juden frühreifes Lalent,
das überraschend ausbricht, um dann konventionell zu ermüden; von neuem
sammelt man sich und verarbeitet nun sparsamer sein jugendliches Inventar.
Chagall wurde 1890 in Liosno (Gouvernement Witebsk) geboren, wuchs auf
in diesem fast ethnographisch fremden Leben der Juden, deren Jahr fromm
episch abläuft, nach Sabbath und Festen geregelt. Das Jüdische wird der Mann
nicht vergessen; er kommt nach Petersburg, malt die Vorgänge, die er zu
Hause erlebt, die ihm die Jugend geformt. Hochzeit, Begräbnis, eine Frau, die
sich kämmt, eine Bauernfamilie. Das ist die Zeit von 1908 bis 1910. Die Bilder
sind in bläulichem, trauerndem Grau gemalt, von stumpfen Farben übereilt.
Die von den Leuten des Mir Iskoustwa entdeckte Volkskunst hat auf den
jungen Künstler gewirkt, und so erzählte er das Leben, wie er es zu Hause
gesehen hat. Der Zwanzigjährige fährt nach Paris; dort betrachtete man die
Kubisten, Matisse, den Koloristen, und lernte die Farbenfreude der russischen

186
 
Annotationen