Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
82

Zur Naturgeschich

Diese Frage hat auch für diese Gegend ihre volle Erklärung,

! denn bisher haben sich zu ihr nur vereinzelte Touristen verirrt,
einzelne, harmlos ab- und zuschwirrende, naturlüsterne Käfer, die
in dem großen, grünen Berg- und Thal-Tableau schier un-
, bemerkt untergingen.

Run aber streckt sich der „Heerwurm" eines „Vcrgnügungs-
zuges" nach diesen idillischcn und keuschen Gefilden ans, — kein
Wunder, daß diese Erscheinung eben wunderlich genug
erscheint.

Was für Augen wird erst der Zielpunkt dieser Fahrt, ein
lieblicher Thalkessel mitten im Gebirge machen, wenn ihm der
' „Heerwurm" den ihm zugedachten, bedenklichen Besuch macht!

Eilen wir dem „Hecrwurm", dessen Sichwinden die Berge
hinauf und hinab, und wieder hinan Andere indessen von unten
beobachten können, eilen wir ihm zu dem bezeichneten Thale
voran.

Da stehen drei bis vier Waldhiitten, deren eine vor sich
auf dem Wiesenplan eine Anzahl roh gezimmerter Tische und
Bänke. zeigt.

Der Leiter des Vergnügungszuges, der Kopf des Hecr-
! wurmcs hat dieß 8 Tage vorher ersonnen und angcordnet.

Das hiedurch herbeigeführte Gesäge und Gehämmer hat
bereits die seit Jahrhunderten hier heimische Ruhe aufgeschrcckt.

I Aber ein paar Stunden nach dem letzten Hammerschlage kehrten
die tiefer in den Wald geflüchteten Vögel und Eichhörnchen
, wieder zurück.

Verwundert sehen sie drein, aber sie gewöhnen sich an die
. vollzogene Reform, und, diese vollendet wähnend, thun sie wieder,

! als wäre nichts vorgefallen.

Da schlägt der Fink wieder lustig, die Amsel pfeift uner-
müdet wie ein schelmischer Schusterjunge, das Eichhörnchen
! klettert auf und ab, und setzt hinüber und herüber, ein wahrer
! Natur-Turner, die Eidechse raschelt zum Walde heraus, und lugt
mit den klugen Aeuglein hervor, die Heuschrecken hüpfen hoch
im Grase umher, die Grille sitzt vertrauensvoll vor der Thüre
ihrer bescheidenen Wohnung und singt heiter ihr Liedchen.

Kurz Alles lebt froh in den Tag hinein und hat keine
Ahnung vom „Heerwurm", der immer näher rückt.

Rur die „Alten" von den Bewohnern dieser Hütten, scheinen
wenigstens thcilweise und instinktiv einen dunklen Begriff von der
Schonungslosigkeit des ihnen angekündigten Besuches zu haben,
denn sie haben, um nur einen Beweis anzuführen, ihren
hübschen Töchtern während der Anwesenheit des „Heer-
wurm" den Aufenthalt ans den schwer zu erkletternden Heuböden
angewiesen, oder sic zu Freunden und Verwandten tiefer in's
Gebirge auf Besuch geschickt!

Denn der „Heerwurm", den wir meinen, bohrt nicht nur
alle Bier- und Weinfässer an, bringt nicht nur Alles Eßbare,
was sich in einer Gegend vorfindet, zivischen seine Kauwerkzeuge,
er soll auch, — so geht die Sage, — auf die Schönen des bc-
! züglichen Landstriches besonders erpicht sein, und sie zur allge-
meinen Vergnüglingsbeute zählen.

Die Eheherren und liebesglücklichen Bursche bekreuzigen
, sich daher im Stillen, wenn es heißt:

te der Touristen.

„Ein Vergnügungszug kommt!"

Ob die Sage hier nicht auch, wie überhaupt früher beim
„Heerwurm", mit allzuschwarzen Farben sein Gespenst an die
Wand malt, das wagen wir nicht zu entscheiden, und über-
lassen die volle Aufklärung getrost späteren Tagen des Fort-
schrittes, die gewiß auch die in dieser Richtung herrschenden
Vorurtheile auf das rechte Maß zurücksnhren wird.

Doch hier schlich sich bereits der „Heerwurm" hinter uns
den Bergrücken herab in den Thalkessel herein.

Da stehen die hundert und hundert Mann des Ver-
gnügungszuges, eine kompakte Masse, und brechen in unge-
hcuchelte Ausrufe der Bewunderung des reizenden Naturbildes
aus, worüber sich das Antlitz des lieblichen Thales wie das
einer Jungfrau vom Frühroth der Sonne überzieht.

Aber bald nimmt die schmeichelhafte Bewunderung eine
andere Form an.

Ein Mann, der mit wüthendcr Geberde einen Stab schwingt,
um dann mit ihm nach allen vier Windrichtungen zu schlagen,
tritt der Gesellschaft voraus, und cs erhebt sich nun ein furchtbar
tönendes Geschrei, daS nichts als ein in Musik gesetzter „Hymnus
an die Natur" ist, aber hier für den Kricgsgesang einer Jn-
dianerhorde gehalten zu werden scheint, denn im Nu ergreifen
die Vögel des Waldes schaarenweise die Flucht, die Eichhörnchen
rascheln in rasender Eile an die höchsten Tannenspitzen hinauf,
und die Grillen graben sich wo möglich um eine Elle tiefer in
die Erde hinein.

Nun tritt ein anderer Herr aus der Reihe hervor und
hält an die versammelte geehrte Bürgerschaft — die aus 4 bis
5 Bauern und 6 bis 8 alten Weibern nebst den bereits er-
wähnten Bänken und Tischen besteht, eine wohlgcsetzte Anrede,
in der von der alten deutschen „Gastfreundschaft" und von dem j
damit verbundenen „Gastrechte" gar schöne Worte gesagt werden,
die in den sämmtlichen Vergnügungszüglern eine um so größere
Begeisterung Hervorrufen, als der gemeinsam erwählte Gcneral-
redner sich auch in anderem Fache, nämlich als Generaltrinker
längst nngethcilte Bewunderung errang, was sich sogleich nach
Auflösung des „Heerwurms" zeigt, indem der Generalredner, der
die Gewohnheit hat, nach jedem genossenen Maßkrug eine fulmi-
nante Rede los zu lassen, innerhalb der zwei Stunden, welche
dem Heerwurm hier zu verweilen bestinimt sind, nicht weniger
als 16 Reden hält!

Während dieser ciceronianischen Entwicklung aber hat der
Heerwurm Alles, was an Eß- und Trinkbarem in der idillischen
Gegend aufzutreiben war, bis zum letzten Bissen und Tropfen
in bewundernswerther Hast vertilgt, so daß sich die einheimischen
Bewohner, wenn sie nicht von „Wurzeln und Kräutern" zu leben
vermögen, oder so klug waren, für sich an einen „Reservefond" j
gedacht zu haben, einige Zeit die Physiologie des Hungers zu !
studieren Gelegenheit finden werden.

Nachdem die Turner mit Hilfe ihrer graziösen Experimente
zahllose Aeste der Bäume geknickt, die Alpenvereinler die ge-
summte Flora des Bezirks in ihre Blechbüchsen eingesteckt und >
die Sänger ihre Kehlen heiser geschrieen, zieht der Heerwurm ab,
Bildbeschreibung
Für diese Seite sind hier keine Informationen vorhanden.

Spalte temporär ausblenden
 
Annotationen