50 Die Ba
mit dem soeben frisch servirten Rothwein zuvorkommend unge-
füllte Glas bei Seite und wiederholte brummend und miß-
muthig: „Wohin reisen Sied Das soll einen Familienvater,
den das Schicksal mit acht lebenden Kindern gesegnet hat, nicht
nervös machen! Reisen! Reisen! Als ob das nur so leicht ge-
than wäre als gesagt. Wie Sie das alljährlich durchführen,
verstehe ich nicht! Unser Einkommen ist so ziemlich gleich, die
Zahl Ihrer Familienmitglieder auch, Privatvermögen besitzen
Sie ebenso wenig als ich, und kaum ist St. Urban vorüber,
so sagen Sie alljährlich: Wohin reisen wir? Und nicht Sie
allein, alle Welt fragt so! An allen Anschlagtafeln prangen
Einladungsplakate für Extratouren vom Nordpol bis zum Süd-
pol, in allen Restaurants bedecken sich die Wände mit Reise-
plänen, alle Welt läuft mit dem Bädeker unter dem Arme herum,
ans der Börse, im Theater, in allen Familienkränzchen fragt
man nur noch: „Wohin reisen Sie?" Seift mich Morgens
der Barbier ein, so lautet seine erste Frage: >vo werden denn
der Herr Oberpostkommissür in diesem Sommer Ihre Villegiatur
halten, und wenn ich Abends aus dem Bureau komme und
will mir bei meinem Cigarrenkaufmann meine Havana's
für den kommenden Tag holen, richtet er dieselbe Frage an
mich! Wo ich mich sehen lasse: Wohin reisen Sie? Und
überall stellt man die Frage so heiter, so lachend, so zuversichtlich,
als habe man einen Menschen vor sich, dessen Portemonnaie
täglich einen frischen Hundertmarkschein irr sich aufnähme! Und
nun erst die Weiber! Ich bekomme förmlich einen Schüttel-
frost, sobald der erste Sommerhut in's Haus kommt oder meine
Jungen die erste Schwalbe gesehen haben, denn dann wird diese
entsetzliche Frage förmlich epidemisch! Gestern hat mich sogar
die kleine Minna, als sie ihr erstes Schnlzeugniß nach Hause
brachte, mit dieser Interpellation beglückt und meinte ganz naiv:
ich wäre ihr das zur Belohnung für die schöne Censur schuldig!
Die Hauptschuld an dieser Reisccpidemie, die ja doch eigentlich
nur ein berechtigter Luxus für die oberen Zehntausend sein
dürfte, tragen die Zeitungsschreiber! Nehmen Sie heutigen
Tages ein Journal zur Hand, welches Sie wollen, Sie finden
in jedem ein Feuilleton über irgend einen lachenden Erden-
winkel, den zu besuchen der Leser förmlich moralisch gezwungen
wird! Wenn so etwas den Frauen in die Hände fällt, hört
inan selbstredend vom verbrühten Morgenkaffee bis zur versalzenen
Abendsuppe nur noch geographische Diskussionen! Die Köchinnen
selbst singen bei ihrer Arbeit nur noch Reiselieder, und >venn
Ihnen irgend ein verstimmter Leierkasten irgendwo begegnet, so
spielt er ganz sicherlich die Melodie: „Ha, welche Lust gewährt
das Reisen!"
Der Steuerrath mußte laut auslachen, trotzdem es dem
Freunde mit dieser Philippika gegen das Saison-Thema bitterer
Ernst sein mochte.
„Freundchen, Freundchen," rief er heiter aus, „Sie reden
sich ja förmlich in den Zorn hinein! Man muß nicht gegen
den Strom schwimmen wollen! Die Reiselust und das Reisc-
bedürfniß steckt einmal in jedem Menschen! Es ist als ob
uns Flügel wüchsen, sobald die Natur Sommertoilette gemacht.
Und dieses Bedürfnis; ist unter den jetzigen socialen Ber-
ber c i se.
hältnissen eine Nothwendigkeit! Ich habe Ihnen das vom sanitären
Standpunkte aus schon vordem entwickelt und begründet. Daß
auch die Convenienz oder die Mode, wenn ich so sagen darf,
in dieses Thema Hineinreden und von Jedem, der zur guten
Gesellschaft zählen will, eine Sommerreise gebieterisch fordert,
finde ich recht hübsch! Es lebe der bon ton, der die Frage
nicht unterdrückt wissen will: wohin reisen Sie?" . . .
„Lehren Sie mich das Geheimniß, Verehrtester, wie man
dem bon ton nachgeben kann, wenn man in Verhältnissen
lebt wie die unsrigen, und ich will Ihnen vollständig Recht
geben!" lautete des Postbeamten kategorische Antwort. Der Ge-
fragte zuckte die Achseln und blickte äußerst pfiffig in sein
Weinglas.
„Das ist so eine Sache wie mit dem Ei des Ko-
lumbus", meinte er mit diplomatischem Lächeln. „Wer nicht
als personage inferieur in der Gesellschaft betrachtet werden
will, muß seine Badereise machen! Wissen Sie, daß man es
Ihnen bereits stark verdenkt, weil Sic immer und ewig daheim
hocken! Sic hätten nur hören sollen, was gestern über Sie
und Ihre Familie bezüglich dieses Thema's bei Apothekers ge-
sprochen wurde! Wembs Ihnen selbst auch keinen Spaß macht,
man muß mit den Wölfen heulen! Ihre gesellschaftliche Position
fordert die Badereise!"
Der Postcommissär seufzte. „Wohin reisen denn Sie",
fragte er kleinlaut.
„Wir schwanken noch zwischen einer Villegiatur im Schwcizcr-
lande und einer Fahrt durch den neuen Gotthard-Tunnel nach
Italien", gab der Steuerrath mit der Miene eines Mannes
zur Antwort, der sich wohl bewußt ist, welchen imponirenden
Trumpf er mit sothanem Bescheide ausgespielt habe.
„Italien, Italien", flüsterte der arme Postcommissär und
warf einen unendlich melancholischen Blick zur rauchgeschwärzten
Holzdecke der kleinen Weinstube. Der Stcuerrath weidete
sich sichtlich an der gedrückten Stimmung seines College,,,
endlich schien jedoch das Mitgefühl in ihm die Oberhand zu
gewinnen und eben legte er die fettglänzende Rechte gleichsam
zur Einleitung einer ganz besonders vertraulichen Mittheilung
aus die Schulter des Postcommissärs, als mehrere laute Stimmen
im Vorzimmer ihn plötzlich wieder in diesen, Vorhaben störten.
„Der Apotheker und der Professor kommen", fliisterte er,
als wolle er dem mißgestimmten Freund mit diesem Avis eine
kleine Mahnung erthcilcn.
Die Angemeldeten betraten im lebhaftesten Diskurs das
Gemach.
„Nein, nein, nein", eiferte der kleine magere Professor
mit scharfer Diskantstimme, „die Stelle steht nicht im „Wintcr-
märchen", sondern in den „beiden Edlen von Verona!" Heda,
Postcommissär, Ihr seid ja ein feiner Shakespeare-Kenner,
wo steht der schöne Passus über das Reisen:
„Wer seine Jugendzeit vcrhockt daheim,
Den schickt man alt mit seiner Weisheit heim" — ?
Nicht wahr, ich habe Recht?"
Der Gefragte sann eine Weile nach, dann nickte er zn-
stimmcnd dem Professor zu und meinte mit süßsaurer Miene:
mit dem soeben frisch servirten Rothwein zuvorkommend unge-
füllte Glas bei Seite und wiederholte brummend und miß-
muthig: „Wohin reisen Sied Das soll einen Familienvater,
den das Schicksal mit acht lebenden Kindern gesegnet hat, nicht
nervös machen! Reisen! Reisen! Als ob das nur so leicht ge-
than wäre als gesagt. Wie Sie das alljährlich durchführen,
verstehe ich nicht! Unser Einkommen ist so ziemlich gleich, die
Zahl Ihrer Familienmitglieder auch, Privatvermögen besitzen
Sie ebenso wenig als ich, und kaum ist St. Urban vorüber,
so sagen Sie alljährlich: Wohin reisen wir? Und nicht Sie
allein, alle Welt fragt so! An allen Anschlagtafeln prangen
Einladungsplakate für Extratouren vom Nordpol bis zum Süd-
pol, in allen Restaurants bedecken sich die Wände mit Reise-
plänen, alle Welt läuft mit dem Bädeker unter dem Arme herum,
ans der Börse, im Theater, in allen Familienkränzchen fragt
man nur noch: „Wohin reisen Sie?" Seift mich Morgens
der Barbier ein, so lautet seine erste Frage: >vo werden denn
der Herr Oberpostkommissür in diesem Sommer Ihre Villegiatur
halten, und wenn ich Abends aus dem Bureau komme und
will mir bei meinem Cigarrenkaufmann meine Havana's
für den kommenden Tag holen, richtet er dieselbe Frage an
mich! Wo ich mich sehen lasse: Wohin reisen Sie? Und
überall stellt man die Frage so heiter, so lachend, so zuversichtlich,
als habe man einen Menschen vor sich, dessen Portemonnaie
täglich einen frischen Hundertmarkschein irr sich aufnähme! Und
nun erst die Weiber! Ich bekomme förmlich einen Schüttel-
frost, sobald der erste Sommerhut in's Haus kommt oder meine
Jungen die erste Schwalbe gesehen haben, denn dann wird diese
entsetzliche Frage förmlich epidemisch! Gestern hat mich sogar
die kleine Minna, als sie ihr erstes Schnlzeugniß nach Hause
brachte, mit dieser Interpellation beglückt und meinte ganz naiv:
ich wäre ihr das zur Belohnung für die schöne Censur schuldig!
Die Hauptschuld an dieser Reisccpidemie, die ja doch eigentlich
nur ein berechtigter Luxus für die oberen Zehntausend sein
dürfte, tragen die Zeitungsschreiber! Nehmen Sie heutigen
Tages ein Journal zur Hand, welches Sie wollen, Sie finden
in jedem ein Feuilleton über irgend einen lachenden Erden-
winkel, den zu besuchen der Leser förmlich moralisch gezwungen
wird! Wenn so etwas den Frauen in die Hände fällt, hört
inan selbstredend vom verbrühten Morgenkaffee bis zur versalzenen
Abendsuppe nur noch geographische Diskussionen! Die Köchinnen
selbst singen bei ihrer Arbeit nur noch Reiselieder, und >venn
Ihnen irgend ein verstimmter Leierkasten irgendwo begegnet, so
spielt er ganz sicherlich die Melodie: „Ha, welche Lust gewährt
das Reisen!"
Der Steuerrath mußte laut auslachen, trotzdem es dem
Freunde mit dieser Philippika gegen das Saison-Thema bitterer
Ernst sein mochte.
„Freundchen, Freundchen," rief er heiter aus, „Sie reden
sich ja förmlich in den Zorn hinein! Man muß nicht gegen
den Strom schwimmen wollen! Die Reiselust und das Reisc-
bedürfniß steckt einmal in jedem Menschen! Es ist als ob
uns Flügel wüchsen, sobald die Natur Sommertoilette gemacht.
Und dieses Bedürfnis; ist unter den jetzigen socialen Ber-
ber c i se.
hältnissen eine Nothwendigkeit! Ich habe Ihnen das vom sanitären
Standpunkte aus schon vordem entwickelt und begründet. Daß
auch die Convenienz oder die Mode, wenn ich so sagen darf,
in dieses Thema Hineinreden und von Jedem, der zur guten
Gesellschaft zählen will, eine Sommerreise gebieterisch fordert,
finde ich recht hübsch! Es lebe der bon ton, der die Frage
nicht unterdrückt wissen will: wohin reisen Sie?" . . .
„Lehren Sie mich das Geheimniß, Verehrtester, wie man
dem bon ton nachgeben kann, wenn man in Verhältnissen
lebt wie die unsrigen, und ich will Ihnen vollständig Recht
geben!" lautete des Postbeamten kategorische Antwort. Der Ge-
fragte zuckte die Achseln und blickte äußerst pfiffig in sein
Weinglas.
„Das ist so eine Sache wie mit dem Ei des Ko-
lumbus", meinte er mit diplomatischem Lächeln. „Wer nicht
als personage inferieur in der Gesellschaft betrachtet werden
will, muß seine Badereise machen! Wissen Sie, daß man es
Ihnen bereits stark verdenkt, weil Sic immer und ewig daheim
hocken! Sic hätten nur hören sollen, was gestern über Sie
und Ihre Familie bezüglich dieses Thema's bei Apothekers ge-
sprochen wurde! Wembs Ihnen selbst auch keinen Spaß macht,
man muß mit den Wölfen heulen! Ihre gesellschaftliche Position
fordert die Badereise!"
Der Postcommissär seufzte. „Wohin reisen denn Sie",
fragte er kleinlaut.
„Wir schwanken noch zwischen einer Villegiatur im Schwcizcr-
lande und einer Fahrt durch den neuen Gotthard-Tunnel nach
Italien", gab der Steuerrath mit der Miene eines Mannes
zur Antwort, der sich wohl bewußt ist, welchen imponirenden
Trumpf er mit sothanem Bescheide ausgespielt habe.
„Italien, Italien", flüsterte der arme Postcommissär und
warf einen unendlich melancholischen Blick zur rauchgeschwärzten
Holzdecke der kleinen Weinstube. Der Stcuerrath weidete
sich sichtlich an der gedrückten Stimmung seines College,,,
endlich schien jedoch das Mitgefühl in ihm die Oberhand zu
gewinnen und eben legte er die fettglänzende Rechte gleichsam
zur Einleitung einer ganz besonders vertraulichen Mittheilung
aus die Schulter des Postcommissärs, als mehrere laute Stimmen
im Vorzimmer ihn plötzlich wieder in diesen, Vorhaben störten.
„Der Apotheker und der Professor kommen", fliisterte er,
als wolle er dem mißgestimmten Freund mit diesem Avis eine
kleine Mahnung erthcilcn.
Die Angemeldeten betraten im lebhaftesten Diskurs das
Gemach.
„Nein, nein, nein", eiferte der kleine magere Professor
mit scharfer Diskantstimme, „die Stelle steht nicht im „Wintcr-
märchen", sondern in den „beiden Edlen von Verona!" Heda,
Postcommissär, Ihr seid ja ein feiner Shakespeare-Kenner,
wo steht der schöne Passus über das Reisen:
„Wer seine Jugendzeit vcrhockt daheim,
Den schickt man alt mit seiner Weisheit heim" — ?
Nicht wahr, ich habe Recht?"
Der Gefragte sann eine Weile nach, dann nickte er zn-
stimmcnd dem Professor zu und meinte mit süßsaurer Miene: