Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Stadtarchäologie in Braunschweig — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 3: Hameln: Verlag CW Niemeyer, 1985

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.57459#0248
License: Creative Commons - Attribution - ShareAlike
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Vertreter) nach besagter Kirche gegangen und habe
durch Ein- und Ausgehen, durch Berühren des Ringes
der Kirchentür, des Altares und des Taufsteines, durch
Ein- und Ausgehen in das Pfarrhaus und durch Anwei-
sung der Schlüssel diesen in sein Amt eingesetzt. Der
Braunschweiger Rat lehnte den eingesetzten Priester
jedoch ab als „weder mit dem Alter noch Kunst dazu
geschickt“. Tatsächlich hatte der Herzog, als wenn es
den reformatorischen Protest gegen solche Praktiken
nie gegeben hätte, einen jungen, noch studierenden
Mann als Pfarrer benannt48.

Der Rat nutzte einige Jahre später, 1544, die Besetzung
des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel durch
den Schmalkaldischen Bund (1542-1547) und veran-
laßte den jungen Pfründner, gegen eine Entschädigung
auf seine Pfarrstelle zu verzichten49. Am „Tag der un-
schuldigen Kinder“(!) 1544, also am 28. Dezember, ga-
ben Bürgermeister und Rat der vier Weichbilde Alt-
stadt, Hagen, Neustadt und Altewiek kund, daß sie
sich mit Bürgermeister und Rat im Weichbild Sack, mit
den Kastenherren und den Ratspersonen der Altstadt
unter Hinzuziehung auch der ältesten Pfarrangehöri-
gen von St. Ulrich („den oldesten parluden der ker-
cken to sunte Olricke“) geeinigt hätten, die alte Ul-
richskirche wegen baulicher Schäden abzureißen und
die „Brüdernkirche“, die ehemalige Kirche der Fran-
ziskaner, der St.-Ulrichs-Pfarrei als Kirchengebäude
zuzuweisen50. So ist es geschehen — seitdem heißt die
Pfarrei „(St.-)Ulrici-Brüdern“.

Der 1547 heimkehrende, bei der Vereinbarung von
1544 übergangene landesfürstliche Patronatsherr hat
das Geschehen hinnehmen müssen, schaltete sich aber
in den nächsten Jahren mehrfach auf Grund seiner Pa-
tronatsrechte in Angelegenheiten der Ulrici-Brüdern-
Pfarrei ein (1554, 1556, 1558, 1559)51. Mit dem neuen
lutherischen Landesherrn, Herzog Julius (1568-1589),
schloß die Stadt am Laurentiustag 1569 (10. 8.) einen
vorläufigen Frieden. Dabei wurde als 18. Punktverein-
bart52: „Sanct Ulrichs Platz betreffent, Dieweill Die-
selb Pfarrkirch'desolirt, und in die Kirch zu den Brü-
dern gelegt worden. So ist diser Punct dahin gerichtet
und abgehandelt, Das unserm gnedigen Herrn und Se-
nior fürstliche gnaden Erben die gemelte Kirch zu den
Brüdern sambt dem Iure patronatus inmassen solche
zuvor St. Ulrich gewesen, Doch zukommen und dage-
gen dem Rathe Sanct Ulrichs Platz Ires gefallens mit
demselben Ingebawen überlassen sein soll“. Die Stadt
Braunschweig mußte also 1569 den gesamtwelfischen
Patronat über St. Ulrich wieder anerkennen und hatte
somit in dieser Hinsicht durch den Abbruch von 1544
nichts gewonnen. Allenfalls eine unbequeme Baulast
für eine halb erneuerte Kirche konnte als entfallen gel-
ten53.

„Altes und „neues“ Gebäude ab 1494

Nach den Skizzen von der St.-Ulrichs-Kirche im
Braunschweigischen Kalender von 1861 und in K. W.
Sacks Festgabe von 1861 (Abb. 4) soll die Kirche auf
dem Kohlmarkt eine dreischiffige Hallenkirche mit
einer Zweiturmfront gewesen sein54. Diese Vorstel-
lung beruht auf Analogieschlüssen bzw. auf reiner
Phantasie55, abgeleitet möglicherweise aus den von
H. Dürre 1861 (teilweise schon von P. J. Rehtmeyer
1707-1720) veröffentlichten Einzelnachrichten, insbe-
sondere über die Altarstiftungen. Diese Einzelnach-
richten sind auch hier, mangels anderer archivalischer
Quellen, die einzige Erkenntnisquelle; sie bedürfen
aber einer sorgfältigeren und auf einen Kontext zielen-
den Interpretation. Eine entscheidende Hilfe bietet die
Urkunde von 1544, in der deutlich ein „altes“ und ein
„neues“ Gebäude unterschieden wird, was Rehtmeyer
in seine Schilderung einbezieht56, während Dürre dies
nicht ernsthaft zur Kenntnis nimmt und die Hinweise
auf eine Kirchenerneuerung im Zeitraum 1494 bis 1511
als „Reparatur“ herabstuft57. Die Passage der Urkunde
von 1544 lautet:
„Deweile befunden dat in dussen Lufften (= Zeitläuf-
ten) nicht woll mogelich geweßen, dat nie angefangen
gebew tho fullenfoirenn, und dan dat olde so noch an
dersulven kerken vorhanden so bwfellig geweßen, dat
idt lenger nicht stand unnd in wesende beholden wer-
den mögen, sunder degelicher den fahl gedrawet (der
Fall droht), wo idt dan ock an itligen orden dy nechtli-
ger wile ingeschoten Dat ane forcht dat parrecht dar-
inne lengete nicht hat verhopet werden mögen, so se
uns dat olde und nie gebow ock den thurm abgetragen,
der kirchhof gepflastert, und zu einem Markt der stadt
zu Ehren gemacht werden .. .58.“
Es bestanden 1544 danach deutlich drei Gebäudeteile:
altes und neues Gebäude sowie der Turm. Von „ei-
nem“ Turm, also nicht etwa einer Zweiturmfront, ist in
der Urkunde mehrfach die Rede. Das neue Gebäude
war also nicht fertig geworden. Im alten Gebäude, „so
noch an dersulven kerken vorhanden“, hatte es nächtli-
che Einstürze gegeben. Die 1544 abgebrochene Kirche
war mit Sicherheit weder ein einheitlicher Bau noch be-
saß sie offenbar damals eine Zweiturmfront.
Die neuen Gebäudeteile wurden in den Jahren
1494/1511 errichtet. Ein Vertrag von 1494, eine her-
zogliche Urkunde und mehrere Altarstiftungen bewei-
sen dies. Im Jahre 1494 schlossen der Rat im Sack und
die Alterleute von St. Ulrich mit „mester Vincencius
Kock“ einen Vertrag, wobei es heißt, der Baumeister
sei angenommen, ihre Kirche zu erbauen („angheno-
men ... to buwende unse kerken“)59, was doch wohl
nur als Neubau verstanden werden kann. Leider enthält
der Vertrag von 1494 keine hier sonst verwertbaren

230
 
Annotationen