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Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

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Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0035
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schaulichen Sachverhalt? Mit dieser Frage ist zu
beginnen. Danach wenden wir uns dem zu, ob und
inwiefern Michelangelos Phaethon-Sturz ais Voraus-
setzung seiner Bilderfindung des Jungsten Gerichts
angesehen werden darf.

Der menschliche Leib als Gegenstand
und Trager der Botschaft des Bildes

Erste Weisung an den Kiinstler erteilte der greise
Papst Clemens VII., der 1534 starb. Sein Nachfolger
Paul III. erneuerte den Auftrag. 1541 erfolgte die
offizielle Enthullung. 1564, noch in den letzten Le-
benswochen des Kiinstlers, wurde das Gerichtsbild
von der EntschlieBung einer papstlichen Kommis-
sion getroffen, die man nach heutigen MaBstaben
ais Zensur bezeichnet. Es erfolgten danach die
bekannten Ubermalungen mit mehr oder weniger
auffalligen Draperien, die bei der jungsten Restau-
rierung leider nicht uberall entfernt werden konn-
ten. Bezeichnend genug fur die Kunstauffassung
des Konzils von Trient bezweifelte die Kommission
zu keinem Zeitpunkt die Rechtglaubigkeit des
Kunstlers, sie beanstandete yielmehr vermeintliche
VerstoBe gegen das decorum. Die Wurde des Themas
und des Ortes erfordere, unschickliche Nacktheit
und unziemliche Posen zu tilgen. Dies traf jedoch das
kunstlerische Konzept Michelangelos empfindlicher,
ais jeder denkbare Vorwurf theologischer Irrtiimer
es vermocht hatte. Denn der menschliche Leib in
seiner organischen Ganzheit und Tatigkeit ist hier
der nahezu ausschlieBliche Gegenstand und Trager
der Botschaft des Bildes.

Michelangelos langjahriger Mitarbeiter und
treuer Bewunderer Ascanio Condiyi scheint genau
das zu erkennen, wenn er in seiner 1553 in Rom
erschienenen Vita des Meisters die Beschreibung des
Gerichtsbildes wie folgt einleitet: „In diesem Werk
driickte Michelangelo alles aus, was die Kunst der
Malerei aus einem menschlichen Leib zu machen
yermag, wobei er keine Handlung oder Bewegung
[im Italienischen: atto o moto alcuno] auslieB”6. Am
Ende seiner Beschreibung wiederholt Condiyi leicht
abgewandelt: „man sieht [hier] alles dargestellt, was
die Natur aus einem menschlichen Leib machen
kónnte”7.

6 Meine Ubersetzung aus dem Italienischen. Vgl. Condivi,
in Carl Frey (Hrsg.), Le vite di Michelangelo Buonarroti scritte da
Giorgio Vasari e da Ascanio Condivi, Berlin 1887, S. 158: „In
quest’ opera Michelagnolo espresse tutto quel che d’ un corpo
humano puó far Tarte della pittura, non lasciando in dietro

atto o moto alcuno”.

Das Jiingste Gericht heiBt italienisch allgemein
giudizio unwersale, sofern es der ganzen Menschheit
gilt. An der Herausforderung dieses uniyersalen
Themas miBt und beweist sich nun die Uniyersalitat
des Kunstlers, alles, was das Jiingste Gericht sei oder
sein konne, nur durch Variationen des menschlichen
Leibes, seine „atti“ und „moti“, Handlungen und
Bewegungen, auszudriicken. Leib sind alle Akteu-
re, Christus und die Gottesmutter, die Heiligen,
Propheten und Patriarchen, die Erretteten und Ver-
dammten, die Engel und die Damonen. Sie yertreten
in mannigfaltigen Spiegelungen und Abstufungen
die Gottesebenbildlichkeit des Schopfungsberichts
bis hin zur Karikatur dieser Ebenbildlichkeit in den
Damonen.

Es geht um eine doppelte Mimesis: Die Kunst
gibt uns sichtbare Bilder des sichtbaren Leibes. Sie
stellt aber auch das fiir sich genommen Unsichtbare
dar, sofern dieser Leib selbst ein dramatischer, ein
darstellender Leib ist. Hier begegnet die schon in der
Florentiner Fruhrenaissance bei Leon Battista Alberti
erorterte und bei Leonardo da Vinci zugespitzte For-
derung, die bildende Kunst solle ihre Themen mit
ausschlieBlich figurlichen Mitteln darstellen. Das
Kunstwerk emanzipiert sich von jedem hilfsweise
yerbalen Kommentar. Zugleich beansprucht es eine
der Sprache und Literatur yergleichbare Prazision
und Pragnanz und mehr noch eine die partikularen
Einzelsprachen iiberbietende uniyerselle Verstand-
lichkeit. Denn das Idiom der bildenden Kunst ba-
siere nicht auf Tradition und Konvention, sondern
auf der allen Menschen gemeinsamen sinnlichen
Erfahrung und angeborener Urteilskraft.

In Michelangelos Gerichtsbild finden wir jedoch
Einzelheiten, die sich yordergriindig solch empi-
risch-naturalistischer Verstandlichkeit entziehen.
Da ist die anscheinende Fahigkeit der von den Toten
Erweckten, gleichsam schwerelos und wie von einer
inneren Kraft bewegt in die Liifte aufzusteigen.

Motive der Entruckung und Yerwandlung

VOR DEM HlNTERGRUND DER TyPENGESCHICHTE

Das traditionelle Gerichtsbild vor Michelangelo
beruht auf der knappen Schilderung des Jungsten
Tages in Matthaus 24 und 25. Der Evangelist legt

7 Condivi, in Frey (wie Anm. 6), S. 170: „si vederappresen-
tato tutto quel che d’un corpo humano possa far la natura”.

8 So auch Condivi, in Frey (wie Anm. 6), S. 160: „Chel
tutto essendo diuiso in parte destra et sinistra, superiore et
inferiore”.

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