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tatsache, daß man sich über die selbstverständ-
lichsten Eindrücke seiner Entwicklungsjahre am
wenigsten Rechenschaft gibt, obwohl gerade
sie die entscheidenden sind. Wir werden also
nicht den speziellen Einflüssen nachgehen, die
Goethe in der Rückschau des Alters ausdrücklich
verzeichnet, sondern wir werden uns die über-
persönlichen Voraussetzungen seines künstleri-
schen Werdeganges klarzumachen suchen.

Die Mitte des XVIII. Jahrhunderts stand
noch unter dem Zeichen des Rokoko. Das be-
deutet, wenn wir über den Stilbegriff hinaus nach
dem geschichtlichen Sinn der Entwicklung fragen,
eine Zeit der Auflockerung des Kunstwollens in
Nordeuropa. Die seit der Renaissance in den
Kanon der antiken Körperwelt gebannte Schöp-
fungskraft der zisalpinen Menschheit wird frei
und lebt sich in der Erfindung gestaltloser Zier-
formen aus. Die Ornamentik des Rokoko ist der Abb-3- Bi,dnis des N,aIers Heinrich l>fen»inser (anonym). Aquarell.

Wien, Lavater-Sammlung der Xationalbibliothek.

unverbildete Ausdruck einer zeitlosen eurasiati-

schen Formphantasie, die sich in verschiedenen Zeitstilen auf verschiedenen Schauplätzen auswirkt.
Darauf beruhen die verwandten Züge zwischen zwei scheinbar so disparaten Kunstwelten wie
Rokoko und Gotik.

Über die quellende Flut von Rokokoformen legte die Aufklärungsepoche eine Eisschicht von
nüchternen Kunstgesetzen, die von Theoretikern aus der Antike ohne tieferes Verständnis ab-
geleitet wurden. Träger dieser Kunst war die junge bürgerliche Bildungsschicht der Städte. Goethe
kam mit ihr in Leipzig in Berührung. Die steife Anmut der damaligen Architektur und Werkkunst
— des »Zopfstils« — hat seinen Geschmack eine Weile stark beeinflußt. Als er 1768 krank aus
Leipzig nach Frankfurt zurückkam, geriet er in Widerspruch zu seinem Vater, der am Rokoko
festhielt. Der Sohn glaubte, das »Schnörkelwesen« überwunden zu haben. Er war sich nicht bewußt,
daß er gerade seiner Rokokoerziehung die Empfänglichkeit für das Wesen der Gotik verdankte,
die für seine nächste Entwicklung maßgebend werden sollte.

Im Jahre 1770 lebt Goethe mit aufgetanen Sinnen im Schatten des Straßburger Münsters und
schreibt sein Manifest »Von deutscher Baukunst«, jenes rückhaltlose Bekenntnis zur Gotik, in
dem zum erstenmal der hymnische Ton der neuen Bewegung angeschlagen wird. 1772 erscheint der
Götz — unverkennbar im Lebensraum der Gotik empfangen. Der Sturm und Drang bildet die Brücke
vom Rokoko zu der »gotizistisch« gesinnten Romantik. Der durchaus »gotische« Faust kristallisiert
sich im Kopf des Dichters.

In der bildenden Kunst ist der Sturm und Drang nur als Unterströmung feststellbar. Es fehlte die
große Persönlichkeit, die den Forderungen des genialischen Kreises hätte bildnerische Gestalt geben
können. In der Architektur steht das »Gotische Haus« im Park von Wörlitz mit seinem Baubeginn
von 1776 zunächst noch als Ausnahme da. Fürst Friedrich Franz von Anhalt hatte es nach eigenem
Entwurf ohne seinen klassizistischen Hausarchitekten Erdmannsdorf von G. Ch. Hesekiel errichten
lassen. Inder Malerei, Graphik und Plastik läßt sich die Sturm- und Dranggesinnung höchstens mittelbar

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