genau besehen, diesem eigentlich in der Gesamtwirkung überlegen. Da herrscht nichts von
der drängenden Unruhe, dem Wirrwarr und den Unausgeglichenheiten des Hieronymus.
Mag dieser noch so genial kühn im Einzelnen sein, das seiner Wirkungen sicherere Blatt ist
der Ambrosius.
Aus diesen rätselhaft widerspruchsvollen Hinweisen führt uns ein Blick auf eine Schongauer-
komposition mit der Verkündigung (Abb. 3), die zweifellos dieselbe Raumanlage zeigt. Ich
kenne sie aus vier Exemplaren5, das beste ist das Wiener.
Die Verkündigung bildete vermutlich das Glied einer Folge, von der wir vorläufig außer-
dem nur die Darstellung im Tempel kennen. Diese existiert in mindestens fünf Wiederholungen6.
Der Urheber der beiden Darstellungen war Martin Schongauer selbst, das bekundet die Zahl
der Kopien ebenso ausdrücklich wie die noch sichtbare Feinheit der Zeichnung und der
Umstand, daß Dürer zu den Kopisten der Darstellung zählte7. Schongauer starb Anfang
1491, die Raumdarstellung im Ambrosius von 1492 muß also nach der Verkündigung sein.
Der Raum ist reicher ausstaffiert, tiefer und im Ganzen freier und folgerichtiger entwickelt,
sodaß der Holzschnitt wie ein Auszug aus der Zeichnung anmutet. Die kopienmäßige
Abhängigkeit wird daraus ersichtlich, daß das Rundfenster hier wie dort von den Trag-
balken überschnitten wird.
Die Übereinstimmung zwischen den beiden Baseler Titelblättern erklärt sich demnach sehr
einfach. Der alteingesessene Reißer fühlte sich oder wurde durch Amerbach veranlaßt, etwas
Ähnliches für die Ausgabe der Werke des Ambrosius zu leisten wie Dürer für Kesler bei dessen
Hieronymusbriefen. Er war seiner Sache nicht sicher und nahm die Schongauerkomposition
zu Hilfe. Tatsächlich ist nur das Zimmer von einer gewissen, wenn auch beschränkten räum-
lichen Tiefe, die Figur ist unplastisch wie in allen Baseler Holzschnitten der Zeit. Hier fehlte
dem Zeichner das Vorbild und an Dürer mochte er sich wohl nicht halten. Wie wenig das
Neue, das Dürer gebracht hatte, von ihm verstanden wurde oder ihm am Herzen lag, ergeben
einige Einzelheiten. Wie der Spiegel und das Schreibzeug genau in der Mitte der Fenster-
wand sitzen, wie die Knute neben dem Waschgefäß die leere Fläche von oben bis unten füllt
und dabei ungeheuerlich groß geworden ist, das entspricht der unrealistischen, auf dekorativ
ausgleichende Schmückung der Fläche bedachten Einstellung des Meisters. Er hatte wohl
nicht unrecht, sich so zu verhalten. Denn die spröde Gestaltung Dürers konnte in ihrer schein-
baren Unzulänglichkeit wahrscheinlich nicht von ihrer wahren Bedeutung überzeugen. Für
uns heute ist der Unterschied zwischen Hieronymus und Ambrosius geradezu epochal.
* *
*
Polemisches Nachwort
Ich täusche mich schwerlich in der Annahme, daß trotz des Nachweises derselben Raum-
darstellung bei der Verkündigung Verteidiger des Ambrosius auftreten werden, die das Ver-
hältnis der beiden Werke umkehren. Es läßt sich nicht mathematisch beweisen, daß Schon-
gauer vor 1491 und nicht ein Schongauerschüler nach 1492 die Verkündigung entworfen hat.
Wir haben es in der Kunstgeschichte sehr häufig mit ähnlichen Beweisen zu tun. Das ganze
weite Gebiet der vergleichenden Stilkritik gehört hierher, dem man doch nicht die Anerken-
nung versagen kann, im Großen und Kleinen vieles geklärt zu haben. Die Wahrscheinlich-
keitsrechnung, die wir aufstellen, hat bei der Rekonstruktion alter Meister Ergebnisse erzielt,
die zumal bei den Altniederländern eine eigene Literatur ausmachen. Die Erfahrungen spre-
5 Wien, Coburg, Basel (Zeichnungen); Kippenheim in Baden, Kr. Freiburg (Gemälde).
6 Winkler, Dürer-Zeichnungen I 1936 S. 22.
7 In der Londoner Zeichnung W. 21.
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der drängenden Unruhe, dem Wirrwarr und den Unausgeglichenheiten des Hieronymus.
Mag dieser noch so genial kühn im Einzelnen sein, das seiner Wirkungen sicherere Blatt ist
der Ambrosius.
Aus diesen rätselhaft widerspruchsvollen Hinweisen führt uns ein Blick auf eine Schongauer-
komposition mit der Verkündigung (Abb. 3), die zweifellos dieselbe Raumanlage zeigt. Ich
kenne sie aus vier Exemplaren5, das beste ist das Wiener.
Die Verkündigung bildete vermutlich das Glied einer Folge, von der wir vorläufig außer-
dem nur die Darstellung im Tempel kennen. Diese existiert in mindestens fünf Wiederholungen6.
Der Urheber der beiden Darstellungen war Martin Schongauer selbst, das bekundet die Zahl
der Kopien ebenso ausdrücklich wie die noch sichtbare Feinheit der Zeichnung und der
Umstand, daß Dürer zu den Kopisten der Darstellung zählte7. Schongauer starb Anfang
1491, die Raumdarstellung im Ambrosius von 1492 muß also nach der Verkündigung sein.
Der Raum ist reicher ausstaffiert, tiefer und im Ganzen freier und folgerichtiger entwickelt,
sodaß der Holzschnitt wie ein Auszug aus der Zeichnung anmutet. Die kopienmäßige
Abhängigkeit wird daraus ersichtlich, daß das Rundfenster hier wie dort von den Trag-
balken überschnitten wird.
Die Übereinstimmung zwischen den beiden Baseler Titelblättern erklärt sich demnach sehr
einfach. Der alteingesessene Reißer fühlte sich oder wurde durch Amerbach veranlaßt, etwas
Ähnliches für die Ausgabe der Werke des Ambrosius zu leisten wie Dürer für Kesler bei dessen
Hieronymusbriefen. Er war seiner Sache nicht sicher und nahm die Schongauerkomposition
zu Hilfe. Tatsächlich ist nur das Zimmer von einer gewissen, wenn auch beschränkten räum-
lichen Tiefe, die Figur ist unplastisch wie in allen Baseler Holzschnitten der Zeit. Hier fehlte
dem Zeichner das Vorbild und an Dürer mochte er sich wohl nicht halten. Wie wenig das
Neue, das Dürer gebracht hatte, von ihm verstanden wurde oder ihm am Herzen lag, ergeben
einige Einzelheiten. Wie der Spiegel und das Schreibzeug genau in der Mitte der Fenster-
wand sitzen, wie die Knute neben dem Waschgefäß die leere Fläche von oben bis unten füllt
und dabei ungeheuerlich groß geworden ist, das entspricht der unrealistischen, auf dekorativ
ausgleichende Schmückung der Fläche bedachten Einstellung des Meisters. Er hatte wohl
nicht unrecht, sich so zu verhalten. Denn die spröde Gestaltung Dürers konnte in ihrer schein-
baren Unzulänglichkeit wahrscheinlich nicht von ihrer wahren Bedeutung überzeugen. Für
uns heute ist der Unterschied zwischen Hieronymus und Ambrosius geradezu epochal.
* *
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Polemisches Nachwort
Ich täusche mich schwerlich in der Annahme, daß trotz des Nachweises derselben Raum-
darstellung bei der Verkündigung Verteidiger des Ambrosius auftreten werden, die das Ver-
hältnis der beiden Werke umkehren. Es läßt sich nicht mathematisch beweisen, daß Schon-
gauer vor 1491 und nicht ein Schongauerschüler nach 1492 die Verkündigung entworfen hat.
Wir haben es in der Kunstgeschichte sehr häufig mit ähnlichen Beweisen zu tun. Das ganze
weite Gebiet der vergleichenden Stilkritik gehört hierher, dem man doch nicht die Anerken-
nung versagen kann, im Großen und Kleinen vieles geklärt zu haben. Die Wahrscheinlich-
keitsrechnung, die wir aufstellen, hat bei der Rekonstruktion alter Meister Ergebnisse erzielt,
die zumal bei den Altniederländern eine eigene Literatur ausmachen. Die Erfahrungen spre-
5 Wien, Coburg, Basel (Zeichnungen); Kippenheim in Baden, Kr. Freiburg (Gemälde).
6 Winkler, Dürer-Zeichnungen I 1936 S. 22.
7 In der Londoner Zeichnung W. 21.
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