Andreas Hensel
Tabentes Populi
55
Tabentes populi
Grausige Bilder des Krieges
in Lucans 'Pharsalia' und Gert Ledigs 'Vergeltung'
Andreas Hensel
Einleitung
"Dieser Tag bot das Schauspiel zahlreicher seltsamer Todesarten auf dem Meer. Als
eine eiserne Greifhand ihre gierigen Krallen in ein Schiff schlug, durchbohrte sie auch
Lykidas. Er wäre im Meer ertrunken, doch seine Gefährten retteten ihn und hielten ihn
an den Beinen in der Luft fest. Da wurde er in zwei Hälften gerissen, und sein Blut
entfloß nicht langsam wie aus einer einzelnen Wunde, sondern strömte aus allen ge-
platzten Gefäßen, und die pulsierende Lebenskraft, die durch alle Glieder geht, wurde
vom Wasser abgeschnitten. Nie verlor ein Erschlagener das Leben auf so breiter Bahn.
Der untere Teil des Körpers mit den Gliedern, die keine lebenswichtigen Organe ent-
halten, starb ab, doch dort, wo die luftgefüllte Lunge ist, wo das heiße Herz pocht,
kommt der Tod lange nicht vorwärts und kämpft schwer gegen diesen Teil des Men-
schen, bis er schließlich mit Mühe den ganzen Körper bezwingt."1
"Vor dem Altar zerplatzte ein Phosphorkanister. 'Sprechen!' schrie der Leutnant. Vor
seinen Augen war Feuer. Die Wände brannten. Seine Prothese zischte. Sie stand in
Flammen. Er zerschlug sie auf der Grabplatte. Er riß sie ab. Einer wälzte sich am Bo-
den. Im prasselnden Phosphor. Fleisch knackte. Auf der Platte lag die Hose des Ver-
wundeten. Damit hieb der Leutnant auf den Boden. Kot flog davon. Verbrutzelte in der
Hitze. Die Hose brannte. Uringestank verpestete alles. Der Leutnant schrie: 'Raus hier!
Raus!' Zum Eingang sprang er. Vier Kanoniere standen vor ihm. Hinter ihm verbrann-
ten zwei."2
Wie reagieren Leser auf solche Passagen? Kann man grausige, ja ekelhafte Bilder die-
ser Art Lesern/Schülern zumuten? Darauf wurden und werden sehr unterschiedliche
Antworten gegeben (s.u.). Das Schicksal der Autoren Lucan und Ledig sowie ihrer
Werke dokumentiert jedenfalls eine sehr intensive Irritation des Publikums durch der-
artiges Schreiben, die häufig in einer bewussten Ignoranz den Texten gegenüber kul-
minierte. So gerieten beide Autoren zeitweise in völlige Vergessenheit. Man konnte
und/oder wollte nicht hören, was sie und wie sie über den Krieg schrieben, obwohl
doch beiden eine ingeniöse ästhetische Gestaltung des Unsäglichen gelang. In Lucans
Fall, der uns hier vor allem beschäftigen soll, lässt sich das eindrucksvoll an zwei Zita-
ten zeigen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten:
1 Pharsalia III 634-646 in der Übersetzung von G. Luck.
2 Gert Ledig, Vergeltung. S. 160f.
Tabentes Populi
55
Tabentes populi
Grausige Bilder des Krieges
in Lucans 'Pharsalia' und Gert Ledigs 'Vergeltung'
Andreas Hensel
Einleitung
"Dieser Tag bot das Schauspiel zahlreicher seltsamer Todesarten auf dem Meer. Als
eine eiserne Greifhand ihre gierigen Krallen in ein Schiff schlug, durchbohrte sie auch
Lykidas. Er wäre im Meer ertrunken, doch seine Gefährten retteten ihn und hielten ihn
an den Beinen in der Luft fest. Da wurde er in zwei Hälften gerissen, und sein Blut
entfloß nicht langsam wie aus einer einzelnen Wunde, sondern strömte aus allen ge-
platzten Gefäßen, und die pulsierende Lebenskraft, die durch alle Glieder geht, wurde
vom Wasser abgeschnitten. Nie verlor ein Erschlagener das Leben auf so breiter Bahn.
Der untere Teil des Körpers mit den Gliedern, die keine lebenswichtigen Organe ent-
halten, starb ab, doch dort, wo die luftgefüllte Lunge ist, wo das heiße Herz pocht,
kommt der Tod lange nicht vorwärts und kämpft schwer gegen diesen Teil des Men-
schen, bis er schließlich mit Mühe den ganzen Körper bezwingt."1
"Vor dem Altar zerplatzte ein Phosphorkanister. 'Sprechen!' schrie der Leutnant. Vor
seinen Augen war Feuer. Die Wände brannten. Seine Prothese zischte. Sie stand in
Flammen. Er zerschlug sie auf der Grabplatte. Er riß sie ab. Einer wälzte sich am Bo-
den. Im prasselnden Phosphor. Fleisch knackte. Auf der Platte lag die Hose des Ver-
wundeten. Damit hieb der Leutnant auf den Boden. Kot flog davon. Verbrutzelte in der
Hitze. Die Hose brannte. Uringestank verpestete alles. Der Leutnant schrie: 'Raus hier!
Raus!' Zum Eingang sprang er. Vier Kanoniere standen vor ihm. Hinter ihm verbrann-
ten zwei."2
Wie reagieren Leser auf solche Passagen? Kann man grausige, ja ekelhafte Bilder die-
ser Art Lesern/Schülern zumuten? Darauf wurden und werden sehr unterschiedliche
Antworten gegeben (s.u.). Das Schicksal der Autoren Lucan und Ledig sowie ihrer
Werke dokumentiert jedenfalls eine sehr intensive Irritation des Publikums durch der-
artiges Schreiben, die häufig in einer bewussten Ignoranz den Texten gegenüber kul-
minierte. So gerieten beide Autoren zeitweise in völlige Vergessenheit. Man konnte
und/oder wollte nicht hören, was sie und wie sie über den Krieg schrieben, obwohl
doch beiden eine ingeniöse ästhetische Gestaltung des Unsäglichen gelang. In Lucans
Fall, der uns hier vor allem beschäftigen soll, lässt sich das eindrucksvoll an zwei Zita-
ten zeigen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten:
1 Pharsalia III 634-646 in der Übersetzung von G. Luck.
2 Gert Ledig, Vergeltung. S. 160f.