Kurt Smolak
Hieronymus als Übersetzer
123
Hieronymus als Übersetzer
Kurt Smolak
In der traditionellen Ikonographie des westlichen Christentums wird der Kirchenvater
Hieronymus in zwei grundverschiedenen Erscheinungsformen dargestellt: einerseits in
Kardinalstracht in einer Studierstube in Rom, umgeben von Büchern und selbst schrei-
bend1, andererseits als halbnackter büßender Einsiedler in der Wüste von Chalkis2. Die
beiden eben genannten ikonographischen Typen repräsentieren nicht nur die Polarität
des streitbaren Dalmatiners und hochgelehrten Bibelübersetzers, der in Rom bei dem
berühmten Grammatiker Donat studiert hatte und später päpstlicher Sekretär bei Da-
masus geworden war, sein Leben aber als Einsiedler in einer Klause bei Bethlehem
beschloss3: sie kennzeichnen vielmehr die kulturelle Situation speziell des lateinischen
Kulturbereichs während der zweiten Hälfte des 4. Jh. und der ersten Jahrzehnte des 5. Jh.
Es ist dies jene Epoche, in der das traditionsbewusste, kulturell hoch stehende Heiden-
tum Galliens und Roms im Verein mit dem Neuplatonismus seine letzten Kämpfe ge-
gen die dominierende katholische Staatsreligion bestritt; es ist dies ebenso die Epoche
des Auseinanderdriftens der von der Rhetorik und dem Schulkanon römischer Klassi-
ker geprägten Literatursprache und der lebendigen Volkssprache; beide Sprachformen
waren damals literaturfähig4. Mag auch die Trennlinie zwischen Heidentum und Chris-
tentum keineswegs so scharf gewesen sein, wie dies die jeweils sich distanzierende
1 Aus den überaus zahlreichen Beispielen sei eine Arbeit von Albrecht Dürer genannt: Der
Holzschnitt ‘Der Hl. Hieronymus in der Studierstube’ (Titelillustration zu der Ausgabe der
Hieronymusepisteln von Nikolaus Kessler, Bd. 1, Basel 1492; im Besitz der Baseler Öffentli-
chen Kunstsammlung, Kupferstichkabinett; Abbildung in dem Katalog der Dürerausstellung,
Nürnberg 1971, 90) zeigt den gelehrten Kardinal mit drei aufgeschlagenen Büchern, die je-
weils die Anfangsworte des biblischen Buches Genesis erkennen lassen, und zwar in Hebrä-
isch, Griechisch und Lateinisch - es wird also auf die Übersetzertätigkeit des Kirchenvaters
hingewiesen.
2 Auch dieser Bildtyp lässt sich für Dürer belegen, u. zw. durch ein kleines Ölbild aus dem
Fitzwilliam Museum in Cambridge (Abbildung in dem in Anm. 1 zitierten Katalog, gegen-
über S. 304): Der ausgemergelte Hieronymus hat die Kardinalstracht neben sich auf den Bo-
den gelegt und trägt ein zerschlissenes Büßerhemd.
Zur Biographie des Hieronymus s. Μ. Testard, Saint Jerome, Paris 1969; J. N. D. Kelly,
Jerome. His Life, Writings and Controversies, London 1975; H. Hagendahl - J. H. Waszink,
Art. Hieronymus, Reallexikon für Antike und Christentum 15, 117-139; S. Rebenich, Hiero-
nymus und sein Kreis, Stuttgart 1992. - Zu diversen Aspekten der Übersetzertätigkeit des
Hieronymus s. J. Gonzälez-Luis, Notas sobre san Jeronimo traductor y comentarista, Tabona,
N.S. V (1984), 397-406; N. Adkin, Jerome on Ambrose. The Preface to the Translation of
Origen’s Homilies on Luke, Revue Benedictine 107 (1997), 5-14.
4 Darüber allgemein E. Löfstedt, Late Latin, Oslo 1959, 11-38.
Hieronymus als Übersetzer
123
Hieronymus als Übersetzer
Kurt Smolak
In der traditionellen Ikonographie des westlichen Christentums wird der Kirchenvater
Hieronymus in zwei grundverschiedenen Erscheinungsformen dargestellt: einerseits in
Kardinalstracht in einer Studierstube in Rom, umgeben von Büchern und selbst schrei-
bend1, andererseits als halbnackter büßender Einsiedler in der Wüste von Chalkis2. Die
beiden eben genannten ikonographischen Typen repräsentieren nicht nur die Polarität
des streitbaren Dalmatiners und hochgelehrten Bibelübersetzers, der in Rom bei dem
berühmten Grammatiker Donat studiert hatte und später päpstlicher Sekretär bei Da-
masus geworden war, sein Leben aber als Einsiedler in einer Klause bei Bethlehem
beschloss3: sie kennzeichnen vielmehr die kulturelle Situation speziell des lateinischen
Kulturbereichs während der zweiten Hälfte des 4. Jh. und der ersten Jahrzehnte des 5. Jh.
Es ist dies jene Epoche, in der das traditionsbewusste, kulturell hoch stehende Heiden-
tum Galliens und Roms im Verein mit dem Neuplatonismus seine letzten Kämpfe ge-
gen die dominierende katholische Staatsreligion bestritt; es ist dies ebenso die Epoche
des Auseinanderdriftens der von der Rhetorik und dem Schulkanon römischer Klassi-
ker geprägten Literatursprache und der lebendigen Volkssprache; beide Sprachformen
waren damals literaturfähig4. Mag auch die Trennlinie zwischen Heidentum und Chris-
tentum keineswegs so scharf gewesen sein, wie dies die jeweils sich distanzierende
1 Aus den überaus zahlreichen Beispielen sei eine Arbeit von Albrecht Dürer genannt: Der
Holzschnitt ‘Der Hl. Hieronymus in der Studierstube’ (Titelillustration zu der Ausgabe der
Hieronymusepisteln von Nikolaus Kessler, Bd. 1, Basel 1492; im Besitz der Baseler Öffentli-
chen Kunstsammlung, Kupferstichkabinett; Abbildung in dem Katalog der Dürerausstellung,
Nürnberg 1971, 90) zeigt den gelehrten Kardinal mit drei aufgeschlagenen Büchern, die je-
weils die Anfangsworte des biblischen Buches Genesis erkennen lassen, und zwar in Hebrä-
isch, Griechisch und Lateinisch - es wird also auf die Übersetzertätigkeit des Kirchenvaters
hingewiesen.
2 Auch dieser Bildtyp lässt sich für Dürer belegen, u. zw. durch ein kleines Ölbild aus dem
Fitzwilliam Museum in Cambridge (Abbildung in dem in Anm. 1 zitierten Katalog, gegen-
über S. 304): Der ausgemergelte Hieronymus hat die Kardinalstracht neben sich auf den Bo-
den gelegt und trägt ein zerschlissenes Büßerhemd.
Zur Biographie des Hieronymus s. Μ. Testard, Saint Jerome, Paris 1969; J. N. D. Kelly,
Jerome. His Life, Writings and Controversies, London 1975; H. Hagendahl - J. H. Waszink,
Art. Hieronymus, Reallexikon für Antike und Christentum 15, 117-139; S. Rebenich, Hiero-
nymus und sein Kreis, Stuttgart 1992. - Zu diversen Aspekten der Übersetzertätigkeit des
Hieronymus s. J. Gonzälez-Luis, Notas sobre san Jeronimo traductor y comentarista, Tabona,
N.S. V (1984), 397-406; N. Adkin, Jerome on Ambrose. The Preface to the Translation of
Origen’s Homilies on Luke, Revue Benedictine 107 (1997), 5-14.
4 Darüber allgemein E. Löfstedt, Late Latin, Oslo 1959, 11-38.