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Goldschmidt, Adolph; Weitzmann, Kurt; Goldschmidt, Adolph [Editor]; Weitzmann, Kurt [Editor]
Die byzantinischen Elfenbeinskulpturen des X. - XIII. Jahrhunderts (Band 2): Reliefs — Berlin: Bruno Cassirer, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.53147#0091
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BYZANTINISCHE ELFENBEINSKULPTUREN

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und Aphroditegruppe dar mit zwei Musikanten, einem Flöten- und
Syrinxbläser, und den schlafenden Herakles (?), der von Putten
an einen Baum gebunden wird. Sie entsprechen der fünften und
dritten Deckelplatte des Halleschen Kastens. Die Trapeze der Rück-
seite (f und g) zeigen einen Putto auf einem Delphinengespann,
ähnlich dem der rechten Kastenwand des Heiltumkastens, zusam-
men mit einem Putto, der sich auf einen Speer stützt und einen
Kranz hält (vgl. Bd. I Taf. XXXI, 5oa), und ferner Hippolytus, der
vor einem Götteridol opfert (vgl. Bd. I Taf. VII, 17). Da diese bei-
den Reliefs sich nicht auf der Aschaffenburger Zeichnung befinden,
dürften sie die Rückseite des verlorenen Originals geschmückt ha-
ben. Von den zwei Rechteckplatten des Deckels (b und c) stellt die
eine einen Herakles mit geschulterter Keule dar (vgl. Bd. I Taf. XXIII,
4i b), die andere eine vom Rücken gesehene tanzende Mänade (vgl.
Bd. I Taf. XV, 28b), das einzige erhaltene Seitenrelief (a) schließlich
einen Gabaonitergesandten, der dem Josua die vertrockneten Brote
reicht (vgl. Bd. I Taf. VIII, 20 d). Für diese Recht-
eckplatten, von denen ursprünglich zwölf die
Kastenwände und drei weitere die Deckelaufsicht
schmückten, kommt aber der Hallesche Heiltum-
kasten nicht als Vorbild in Frage, da er nur sieben
solcher enthielt.Es muß also noch ein zweiterElfen-
beinkasten als Vorlage benutzt worden sein, der
vermutlich denen in Xanten und aus Cranenburg
(Bd. I Taf. V und VI) ähnlich war und ebenfalls
aus dem X. Jahrhundert stammte, da auf ihnen
dieselben Figuren wiederkehren (vgl. hierzu auch
den Text von Nr. 241).
Über Zeit und Ort der Entstehung des Anagni-
Kastens gibt die Ornamentik Aufschluß, die sich
nicht von byzantinischen Vorlagen ableiten läßt,
sondern ortsübliche Stanzbleche verwendet. Die
Hauptfriese (a) sind aus spiralartig eingezogenen
Blattpaaren gebildet, deren Enden kugelförmige
Samenkolben umschließen, und haben ihre näch-

Sammlung Stroganoff (Bd. I, Nr. 65 und 66 und L. Venturi, La Collezione Gua-
lino, Rom 1926, pl. LXXIV) hat ursprünglich vermutlich die gleichen Größenver-
hältnisse gehabt wie diese, und ist später, nachdem er beschädigt und lückenhaft
geworden war, aus den Resten zu einem kleineren Kasten neu zusammengesetzt
worden. Die mit den zitierten Kästen übereinstimmende Höhe wurde beibehalten
und Länge und Breite gekürzt. Die erhalten gebliebenen Bildfelder haben wohl
nicht mehr zur Verkleidung ausgereicht, so daß man drei neue Deckelplatten mit
den zwischen ihnen liegenden Rosettenstreifen hinzu erfand (Abb. 35). Ferner
mußten durch die Reduzierung die üblichen Reliefleisten, die den oberen Ab-
schluß der Kastenwände bildeten, sowie eine reichere Umrahmung der Deckel-
platten fortfallen.
Die echten Platten der vier Kastenwände geben mit Ausnahme des
rechten Kriegers der Vorderseite (a), der sich mit der Rechten auf
eine Lanze stützt und mit der Linken einen Schild hält, Typen
wieder, die sich wörtlich auf den Kästen in Krakau und Turin wieder-
holen. Dieser Krieger gehört aber auch zum Typenkreis der übri-
gen Rosettenkästen und findet sich ähnlich auf dem in Capodistria


Abb. 35. Deckel des Kastens Nr. 243.

sten Parallelen in den Kämmen des Aachener

Marienschreins (Falke-Frauberger, Deutsche Schmelzarbeiten des
Mittelalters, 1904, Taf. 99). Der aus denselben Motiven gebildete
Deckelfries (b und c) und das Flickstück der Vorderseite (a) sind eng
verwandt den Stanzblechen des Honoratus-Schreins in Siegburg
(Weitzman a. a. O. Abb. 19). Hiernach läßt sich der Anagni-Kasten
also als ein rheinisches Werk vom Ende des 12. oder Beginn des
i3. Jahrhunderts bestimmen. Für den der Aschaffenburger Zeich-
nung zugrunde liegenden Elfenbeinkasten ergibt sich daraus,
daß er zu dieser Zeit bereits in rheinischem Besitz sich befunden
haben muß.
Literatur: Barbier de Montault, Annales Arcbeologiques, Bd. XVII, 1867,
S. 354. — H. Graeven, Österr. Jahrbuch des Allerh. Kaiserhauses, Bd. XX, 1899,
S. 27. — Venturi I, S. 552, Abb. 442- — P- Toesca, L’Arte,Bd. IX, 1906, S. 36 ff. —
Weitzmann, Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. III, 1934, S. 96, Abb. 8—12, 15, 17.
2 43a-d. KASTEN MIT SCHIEBEDECKEL. TAFEL LXXX
und ABB. 35
Krieger und Putten.
XIII. Jahrhundert oder später. Italien (?).
Paris, Sammlung Brimo de Laroussilhe.
Höhe 10 cm, Länge 25 cm, Breite 11 cm. Der Kasten, aus derselben Werkstätte
wie diejenigen in Krakau und in Turin, Sammlung Gualino, aus der ehemaligen

(vgl. Bd. I Nr. 5oa). Unter den oft bis ins Unverständliche defor-
mierten Figuren lassen sich relativ am leichtesten die Krieger auf
Grund ihrer charakteristischen Waffenhaltung als solche erkennen.
In der Mitte der Vorderseite (a) stürmt einer vorwärts mit erhobe-
nem Schwert und vorwärts gehaltenem Schild, ein anderer (b) mit
gefällter Lanze. Vollkommen verbalhornte Motive sind der horn-
blasende Putto (b) und die tanzende Gestalt (c), die sich wahrschein-
lich von einer Mänade ableitet und einstmals ein Schleiertuch in
den erhobenen Händen hielt. Ungeklärt bleiben die nackte Figur
(d), die auf Krücken zu gehen scheint, der vorwärts hüpfende Kahl-
kopf (a), der einen stockartigen Gegenstand in der Linken hält, und
die schaukelnde Figur auf b.
Die koboldartigen, gänzlich disproportionierten Gestalten zeigen
einen Grad von Auflösung jeglicher organischen Struktur, wie es
selbst auf den spätesten byzantinischen Kästen (vgl. Bd. I Nr. 63,
64) nicht vorkommt. In der Gesichtsbildung fehlen alle charakte-
ristischen byzantinischen Einzelzüge. Selbst die Rosettenstreifen
werden strukturloser, indem die einzelnen Rosetten durch größere
Zwickelfüllungen getrennt werden. Über die mutmaßlich italie-
nische Entstehung dieser rohen Kastengruppe vergleiche den Text
zu Bd. I Nr. 65. Man muß erwägen, ob diese Figurenreihe nicht
von einer parodistischen Absicht getragen wird.
 
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