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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0013

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337

Jahren gethan. Was hinter dem Beginne dieses Jahrhun-
derts liegt, hält, wie von Mattigkeit befallen, mich nicht
mehr fest. Nicht ich allein mache diese Erfahrung, auch An-
dere, in vertrauten Gesprächen, gestehen sie als die ihrige
ein. Von dem, was die vergangenen Jahrhunderte bieten,
erscheinen mir nur das Christenthum und sein Stifter, Homer,
Shakespeare, Raphael und Goethe unberührt von diesem
Verblassen. Es ist mir zuweilen, als sei man in ein neues
Dasein versetzt und habe nur das nöthigste geistige Hand-
gepäck mitgenommen. Als zwängen völlig veränderte Lebens-
bedingungen zu völlig neuer Gedankenarbeit. Denn Entfer-
nung ist nichts mehr, was Menschen trennt. In spielender
Leichtigkeit umkreisen unsere Gedanken den Umfang der Erd-
oberfläche und fliegen von jedem Einzelnen zu jedem Anderen,
wo er auch sei. Die Entdeckung und Ausnutzung- neuer Natur-
kräfte vereinigt fämmtliche Völker zu unablässiger gemein-
samer Arbeit. Neue Erfahrungen, unter deren Drucke unsere
Anschauung alles Sichtbaren und Unsichtbaren in ununter-
brochenem Wechsel sich ändert, drängen uns auch für die
Entwickelungsgeschichte der Menschheit neue Betrachtungs-
weisen auf. Die in bedeutenden Menschen verkörperte Kraft
suchen wir auf ihre reine Leucht- und Bewegungskraft zu
prüfen und anders als bisher in ihrer individuellen Erschei-
nung zu begreifen und darzustellen. Wie suchte ich vor dreißig
Jahren Voltaire und Friedrich, Lessing und Winckelmann,
Mirabeau und Napoleon um ihrer selbst willen noch zu durch-
dringen, die mir heute nur insofern wichtig und auch ver-
ständlich sind, als sie die heutige Zeit erklären helfen. Auf
die Gegenwart concentrirt sich meine geistige Arbeit. Sie
verstehe ich, weil sie lebt. Selbst Goethe gilt mir nur inso-
 
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