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ihren Händen sehen wir, mit der Energie der Verzweiflung
in gespreizten Fingern dem nackten Oberarme Christi auf-
geklammert, als ob sie sich in ihn vergraben wolle, während
wir von der andern nur die Finger an dem Haupthaar des
Todten reißen sehen, in das sie sich hineingewühlt haben.
Alles Andere, auch das auf Christi Brust liegende Haupt
Maria's, ist vom Mantel bedeckt, und nun besteht ein Theil
der wunderbaren Kunst darin, daß aus den Falten dieses
Mantels, leuchtend tiefblau, wie nur Böcklin die Farben zu
geben weiß, das Gefühl der Frau herausdröhnt gleichsam.
Man fühlt, über welche Scene der Verzweiflung dieser Vor-
hang herabgesunken sei. Es ist, als dränge das Gefühl
Maria's durch die Hülle auf uns ein. Es wird wohl Nie-
mand, der das Gemälde sah, behaupten, daß hiermit eine
Uebertreibung ausgesprochen werde. Und nun aber, was nur
ein ganz großer Künstler vermag: Böcklin sucht diese Scene
ohnmachtvoller Trauer zu versöhnen, diesen todten Körper,
dessen lang hingelegte Füße nie wieder schreiten werden, dessen
zurückgesunkenes Haupt sich nie wieder erheben wird, doch
als lebendig darzustellen! Der Künstler hat ein fast kindlich
einfaches Mittel angewandt, das den Quattrocentisten geläufig
war: wo sie dieselbe Gestalt in verschiedenen Zuständen zeigen
wollten, bringen sie sie zweimal auf demselben Gemälde an.
Das berühmteste Beispiel ist Gottvater als Schöpfer der
Welt an der Sixtinischen Decke des Michelangelo, dargestellt
in zwei Gestalten, deren eine der anderen dicht zu folgen
scheint, einmal heranschwebend, das zweite Mal davoneilend,
in voller Vorderansicht dort, im Darbieten der anderen Seite
hier. Jeder versteht sofort, was gemeint sei: die Allgegen-
wart: das von Ferne Kommen und zugleich Davoneilen. So
ihren Händen sehen wir, mit der Energie der Verzweiflung
in gespreizten Fingern dem nackten Oberarme Christi auf-
geklammert, als ob sie sich in ihn vergraben wolle, während
wir von der andern nur die Finger an dem Haupthaar des
Todten reißen sehen, in das sie sich hineingewühlt haben.
Alles Andere, auch das auf Christi Brust liegende Haupt
Maria's, ist vom Mantel bedeckt, und nun besteht ein Theil
der wunderbaren Kunst darin, daß aus den Falten dieses
Mantels, leuchtend tiefblau, wie nur Böcklin die Farben zu
geben weiß, das Gefühl der Frau herausdröhnt gleichsam.
Man fühlt, über welche Scene der Verzweiflung dieser Vor-
hang herabgesunken sei. Es ist, als dränge das Gefühl
Maria's durch die Hülle auf uns ein. Es wird wohl Nie-
mand, der das Gemälde sah, behaupten, daß hiermit eine
Uebertreibung ausgesprochen werde. Und nun aber, was nur
ein ganz großer Künstler vermag: Böcklin sucht diese Scene
ohnmachtvoller Trauer zu versöhnen, diesen todten Körper,
dessen lang hingelegte Füße nie wieder schreiten werden, dessen
zurückgesunkenes Haupt sich nie wieder erheben wird, doch
als lebendig darzustellen! Der Künstler hat ein fast kindlich
einfaches Mittel angewandt, das den Quattrocentisten geläufig
war: wo sie dieselbe Gestalt in verschiedenen Zuständen zeigen
wollten, bringen sie sie zweimal auf demselben Gemälde an.
Das berühmteste Beispiel ist Gottvater als Schöpfer der
Welt an der Sixtinischen Decke des Michelangelo, dargestellt
in zwei Gestalten, deren eine der anderen dicht zu folgen
scheint, einmal heranschwebend, das zweite Mal davoneilend,
in voller Vorderansicht dort, im Darbieten der anderen Seite
hier. Jeder versteht sofort, was gemeint sei: die Allgegen-
wart: das von Ferne Kommen und zugleich Davoneilen. So