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III. GIULIANO DA SANGALLO

Bei der Betrachtung des Codex Coner im Kap. V wer-
den wir sehen, daß der Bauaufnahme des Kolosseums
besondere Bedeutung beigemessen wurde. Der Codex
Coner zeigt auch, daß die Zeichnungen, in denen die
Bauaufnahme festgehalten ist, ebenso aufwendig wie die
zugrundeliegenden Vermessungen angelegt sind. In ih-
rem vollen Umfang besteht die Darstellung des Kolos-
seums aus sieben Gesamt- oder Teilrissen und zahlreichen
Detaildarstellungen der Architekturglieder. Das Urbild
dieser Bauaufnahme bestand wohl kaum aus so kleinen
Zeichnungen wie die Repliken im Codex Barberini und
Codex Coner. Vom Trajanshafen bei Ostia ist eine Zeich-
nung erhalten geblieben, die offenbar das Urbild der Re-
plik im Codex Barberini bildet194 (Abb. 22): Sie ist fast
zwei Meter lang! Den Plan der Caracallathermen zeichnete
Giuliano auf ein Pergament von ca. 45 x 70 cm Größe, das
er später in den Codex Barberini (fol. 66 v-67 r) eingebun-
den hat195 (Abb. 20). In solchen Dimensionen zeichnete
Giuliano sonst nur seine Entwürfe. Der Plan für einen
Medicipalast an der Piazza Navona ist ebenfalls fast zwei
Meter lang; die Entwürfe für die Fassade von S. Lorenzo
sind ähnlich groß wie der Grundriß der Caracallathermen.

Der Plan für den Medicipalast an der Piazza Navona
war nach einer Notiz Giulianos für Leo X. bestimmt und
ist ebenfalls im Juli 1513 datiert196. Ungefähr drei Monate,
nachdem Leo X. die Kathedra Petri bestiegen hatte, so
wird gemeinhin die Situation aufgefaßt, in der dieser Plan
entstand, empfahl sich Giuliano als päpstlicher Architekt
so, wie er es unter dem Vater des Papstes gelernt hatte,
indem er ein Palastmodell präsentierte. Um die gleiche

194 UA 4167. Anh. VIII B, 88 r. Die Zeichnung ist von Peruzzis Hand
bezeichnet als „porto di Claudio". Die Kopien Serlios und Sallustios
weisen darauf, daß Peruzzi mehrere Bauaufnahmen Giulianos be-
saß (Anh. VIII, Einleitung). Ähnlich wie UA 4167 bezeichnete
Peruzzi auch die Studien anderer Meister, die er besaß (Francesco
di Giorgio, Pseudo-Cronaca, Mantuaner Anonymus, Kap. VII,
Anm. 24, zudem UA 3978, Bartoli, Bg. 303). Oft wird die Zeich-
nung des Trajanshafens wegen der Notiz Peruzzi zugeschrieben.
Dann hätte Peruzzi 1513/15 für Giuliano gezeichnet. Das wäre ein
neuer, wenn auch nicht von vornherein auszuschließender Aspekt
seiner Vita. Peruzzi kopierte nach einer Notiz seines Sohnes Sallu-
stio anscheinend Giulianos Rekonstruktion der Basilica Aemilia,
vgl. Kap. VII, Anm. 20, p. 245. Allerdings sehe ich keinerlei
Rechtfertigung für die Zuschreibung von UA 4167 an Peruzzi im
Stil der Zeichnung. Das bestätigte H. Wurm bei einem Gespräch
über UA 4167.

195 Huelsen 1910, p. XVIII

196 UA 7949. Marchini 1942, 64s., 111. E. Bentivoglio, II progetto
per Palazzo Medici in Piazza Navona di Giuliano da Sangallo. In:
Architettura, XVIII, 1972, 196-204. Frommel 1973 I, 74 s. etc. G.
Miarelli Mariani, II palazzo Medici a Piazza Navona: un' utopia
urbana di Giuliano da Sangallo. In: Firen^e e la Toscana dei Medici
mW Europa del Cinquecento. Florenz 1983 III, 977-993.

Zeit arbeitete Giuliano den Plan eines Medici-Palastes im
Borgo Pinti aus, den er wohl ursprünglich für Lorenzo
il Magnifico, jedenfalls in deutlicher Anlehnung an das
Palastmodell für Ferrante von Aragon konzipiert hatte197.

Aus der Zusammenschau mit dem Plan für den Medici-
palast an der Piazza Navona läßt sich erklären, was die
Datierung der Vermessung des Kolosseums bedeutet. An-
scheinend präsentierte Giuliano dem Papst im Juli 1513
zudem die Bauaufnahme des Kolosseums. Wie die Palast-
modelle die theoretische und praktische Auseinanderset-
zung Lorenzo il Magnificos mit der Baukunst in Erinne-
rung rufen, so diese Vermessung dessen Antikenstudien;
und wie die Palastmodelle, besonders dasjenige, das die
gesamte Piazza Navona als Vorplatz einbezieht, die frühe-
ren Projekte ins Kolossale steigern, so nehmen auch die
Antikenstudien neue Dimensionen an. Was Lorenzo il
Magnifico als Privatmann unter Albertis Anleitung be-
gann, war der Papst aufgerufen, unter Giulianos Führung
mit den Mitteln der apostolischen Bauhütte fortzuführen.
Die Bauaufnahme des Kolosseums diente als Paradebei-
spiel für die neuartigen Vermessungen bzw., wie der Co-
dex Coner nahelegt, für den Plan einer systematischen
Vermessung der antiken Bauten im neuen Stil.

Giuliano traf den Geschmack des Papstes, der so stolz
auf die kulturelle Tradition seines Elternhauses war. Die
Menge der weiteren Vermessungen im Umfeld der
Bauaufnahme des Kolosseums deuten darauf hin, daß
Leo X. Giulianos Idee aufgegriffen hat. So scheint Giulia-
no den Anstoß zu einer Entwicklung gegeben zu haben,
die schließlich zu dem noch anspruchsvolleren Plan
führte, die antike Stadt Rom in ihrer Gesamtheit zu ver-
messen.

Ein solcher Romplan ist weder im Codex Barberini
noch im Codex Coner oder den Zeichnungen Rinieros
angelegt, die letztlich in die gleiche Entwicklung gehö-
ren. Erst später kam der Gedanke hinzu, die Bauaufnah-
men mit schriftlichen Erklärungen zu verbinden und to-
pografisch nach dem sog. Regionenkatalog des Publius
Victor zusammenzuschließen. Aber auch dieser Plan hat
seine Wurzeln im Kulturkreis Lorenzo il Magnificos. Der
Romführer des Bernardo Rucellai bildete, wie im Kap. I
dargelegt, anscheinend ein Fundament für die literari-
schen Studien zum Romplan Leos X. Auch der Gedanke
einer Verbindung von Beschreibung und Illustration
scheint Bernardo Rucellai nicht ganz fern gestanden zu
haben, wie die wiederholten Hinweise auf die unter Al-
berti angefertigten Bauaufnahmen zeigen.

197 Elam 1978, 54-58. Dagegen Miarelli/Mariani 1972.
 
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