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iv. gian cristoforo romano
wie weit noch Francesco di Giorgio, dessen Traktat Leo-
nardo später ebenfalls besaß, von dieser Klarheit entfernt
ist.
Man darf wohl davon ausgehen, daß sich auch Bra-
mante und Gian Cristoforo Romano am Hof von Mailand
getroffen haben. Sicher haben sie auch ihre Gedanken zur
Architektur ausgetauscht. Dabei konnte Bramante von
den Antikenstudien und philologischen Grundlagen Gian
Cristoforos profitieren; dieser wird Anregungen von dem
großen Architekten aufgenommen haben. In einem sol-
chen wechselseitigen Austausch gelangte Gian Cristoforo
vielleicht zu der Verdichtung seiner theoretischen Studien
in der Form, die bruchstückhaft im Florentiner Codex
überliefert ist, während sich bei Bramante in dieser Zeit
das tiefe Verständnis der Schriften Vitruvs und Albertis
herangebildet hat, von dem seine ersten römischen Bauten
Zeugnis ablegen. Die fruchtbare Begegnung zwischen
den beiden Künstlern am Mailänder Hof könnte erklären,
warum Gian Cristoforo in der Zeit, als die Planung von
St. Peter begann, den Ruf nach Rom erhielt und warum
ihm die Leitung der Bauarbeiten in Loreto nach Braman-
tes Modell anvertraut wurde, obwohl er keine Erfahrung
in der Baupraxis besaß.
Baldassare Peruzzi hielt sich an die Absichten seines
Lehrers Francesco di Giorgio, indem er in liberaler Weise
allen Interessierten die Architekturtheorie vermittelte190,
und er wurde 1527 von der Republik Siena als öffentlicher
Lehrer für Architektur angestellt191. Serlio setzte diese
Tradition fort. Aber er steht letzten Endes auch in der
Nachfolge des Gian Cristoforo Romano, dessen Antiken-
studien er gekannt hat und kopierte192. Denn das vierte
Buch (1537) interpretiert und ergänzt Vitruv mit Albertis
190 Serlio IV (1619), 126r (Vorwort). Zum Verhältnis Peruzzis zu
Francesco di Giorgio vgl. Frommel 1967/68, 9.
191 Cugnoni 1883, 517 ff.
192 Vgl. Anh. VIII.
induktiver Methode und präsentiert die Ergebnisse in
leicht verständlichen Texten mit klaren Demonstrations-
abbildungen. Serlio wollte alle Interessierten ansprechen:
das hat er im Vorwort zum vierten Buch ausdrücklich
gesagt193 und im zweiten Buch (1545) mit teilweise ganz
ähnlichen Worten wie Filarete bekräftigt194. Sein Traktat
erreichte die beabsichtigte Breitenwirkung195. Es beein-
flußte sogar die Vitruv-Auslegung der Humanisten196.
Dennoch stieß es sogleich auf heftige Kritik, weil es den
Zugang zur Materie ungebührlich vereinfacht habe197.
Noch 1546 verteidigte Pietro Lauro seine Übersetzung
von Albertis Architekturtraktat gegen die, die es als „Sa-
krileg" empfanden, wissenschaftliche Schriften auch de-
nen zugänglich zu machen, die nicht die lateinische Spra-
che studiert haben198.
193 „... presupponendo, che non pur gli elevati ingegni l'habbiano ad
intendere, ma ogni mediocre anchora ne possa esser capace ..."
Serlio IV, loc. cit.
194 Günther, Porticus Pompeji, 397. Vgl. Filarete 1972, 9.
195 E. Forssman, Säule und Ornament. Stockholm 1956. Günther, Stu-
dien zum venezian. Aufenthalt, Anm. 19.
196 Zuerst die Vitruv-Kommentare G. Philandriers (1544) und W.
Ryffs (1548). Forssman, op. cit. Günther, Das geistige Erbe Pe-
ruzzis.
197 Philandrier, 137 f. G.P. Lomazzo, Trattato dell'arte della pittura.
Mailand 1584, 407 (VI 45). Vgl. M. Rosci, II trattato di architettura
di Sek. Serlio. Mailand 1966, 3.
198 „sono giä stati molti e anchora ne sono alcuni ... i quali hanno
dannato e dannano gravemente il tradurre i libri de' latini scrittori
nel nostro volgare idioma, e quelli massimamente, che contengono
le dottrine e scientie de le cose, non potendo tollerare, se non con
molto lor dispiacere, che le matematiche, le füosofie, le retoriche,
e le altre simili siano potute leggere da chi non habbia dato o non
dia opera a la latina favella, parendo loro come un gran sacrilegio,
che tali scientie si divulghino e manifestino, si che da ogni persona
generalmente, per illiterata ch'ella si sia, possano essere intese ..."
L.B. Alberti, I dieci libri de l'architettura. Übers. P. Lauro, Venedig
1546. Lauros Vorwort. Dies ist die erste Ubersetzung von Albertis
Architekturtraktat. Berühmter wurde die Übersetzung des Cosimo
Bartoli von 1550, die auch Illustrationen anfügt. C. Grayson, A
Renaissance controversy. Latin or italian. Oxford 1960.
iv. gian cristoforo romano
wie weit noch Francesco di Giorgio, dessen Traktat Leo-
nardo später ebenfalls besaß, von dieser Klarheit entfernt
ist.
Man darf wohl davon ausgehen, daß sich auch Bra-
mante und Gian Cristoforo Romano am Hof von Mailand
getroffen haben. Sicher haben sie auch ihre Gedanken zur
Architektur ausgetauscht. Dabei konnte Bramante von
den Antikenstudien und philologischen Grundlagen Gian
Cristoforos profitieren; dieser wird Anregungen von dem
großen Architekten aufgenommen haben. In einem sol-
chen wechselseitigen Austausch gelangte Gian Cristoforo
vielleicht zu der Verdichtung seiner theoretischen Studien
in der Form, die bruchstückhaft im Florentiner Codex
überliefert ist, während sich bei Bramante in dieser Zeit
das tiefe Verständnis der Schriften Vitruvs und Albertis
herangebildet hat, von dem seine ersten römischen Bauten
Zeugnis ablegen. Die fruchtbare Begegnung zwischen
den beiden Künstlern am Mailänder Hof könnte erklären,
warum Gian Cristoforo in der Zeit, als die Planung von
St. Peter begann, den Ruf nach Rom erhielt und warum
ihm die Leitung der Bauarbeiten in Loreto nach Braman-
tes Modell anvertraut wurde, obwohl er keine Erfahrung
in der Baupraxis besaß.
Baldassare Peruzzi hielt sich an die Absichten seines
Lehrers Francesco di Giorgio, indem er in liberaler Weise
allen Interessierten die Architekturtheorie vermittelte190,
und er wurde 1527 von der Republik Siena als öffentlicher
Lehrer für Architektur angestellt191. Serlio setzte diese
Tradition fort. Aber er steht letzten Endes auch in der
Nachfolge des Gian Cristoforo Romano, dessen Antiken-
studien er gekannt hat und kopierte192. Denn das vierte
Buch (1537) interpretiert und ergänzt Vitruv mit Albertis
190 Serlio IV (1619), 126r (Vorwort). Zum Verhältnis Peruzzis zu
Francesco di Giorgio vgl. Frommel 1967/68, 9.
191 Cugnoni 1883, 517 ff.
192 Vgl. Anh. VIII.
induktiver Methode und präsentiert die Ergebnisse in
leicht verständlichen Texten mit klaren Demonstrations-
abbildungen. Serlio wollte alle Interessierten ansprechen:
das hat er im Vorwort zum vierten Buch ausdrücklich
gesagt193 und im zweiten Buch (1545) mit teilweise ganz
ähnlichen Worten wie Filarete bekräftigt194. Sein Traktat
erreichte die beabsichtigte Breitenwirkung195. Es beein-
flußte sogar die Vitruv-Auslegung der Humanisten196.
Dennoch stieß es sogleich auf heftige Kritik, weil es den
Zugang zur Materie ungebührlich vereinfacht habe197.
Noch 1546 verteidigte Pietro Lauro seine Übersetzung
von Albertis Architekturtraktat gegen die, die es als „Sa-
krileg" empfanden, wissenschaftliche Schriften auch de-
nen zugänglich zu machen, die nicht die lateinische Spra-
che studiert haben198.
193 „... presupponendo, che non pur gli elevati ingegni l'habbiano ad
intendere, ma ogni mediocre anchora ne possa esser capace ..."
Serlio IV, loc. cit.
194 Günther, Porticus Pompeji, 397. Vgl. Filarete 1972, 9.
195 E. Forssman, Säule und Ornament. Stockholm 1956. Günther, Stu-
dien zum venezian. Aufenthalt, Anm. 19.
196 Zuerst die Vitruv-Kommentare G. Philandriers (1544) und W.
Ryffs (1548). Forssman, op. cit. Günther, Das geistige Erbe Pe-
ruzzis.
197 Philandrier, 137 f. G.P. Lomazzo, Trattato dell'arte della pittura.
Mailand 1584, 407 (VI 45). Vgl. M. Rosci, II trattato di architettura
di Sek. Serlio. Mailand 1966, 3.
198 „sono giä stati molti e anchora ne sono alcuni ... i quali hanno
dannato e dannano gravemente il tradurre i libri de' latini scrittori
nel nostro volgare idioma, e quelli massimamente, che contengono
le dottrine e scientie de le cose, non potendo tollerare, se non con
molto lor dispiacere, che le matematiche, le füosofie, le retoriche,
e le altre simili siano potute leggere da chi non habbia dato o non
dia opera a la latina favella, parendo loro come un gran sacrilegio,
che tali scientie si divulghino e manifestino, si che da ogni persona
generalmente, per illiterata ch'ella si sia, possano essere intese ..."
L.B. Alberti, I dieci libri de l'architettura. Übers. P. Lauro, Venedig
1546. Lauros Vorwort. Dies ist die erste Ubersetzung von Albertis
Architekturtraktat. Berühmter wurde die Übersetzung des Cosimo
Bartoli von 1550, die auch Illustrationen anfügt. C. Grayson, A
Renaissance controversy. Latin or italian. Oxford 1960.