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Grundlegende Charakterzüge der Renaissance


A 6: Lektion in Anatomie.
Illustration zu Johannes
de Ketham, Fascicolo di
Medicina, Venedig (1493).
Kolorierter Holzschnitt.

11 Crombie 1970; Crombie
1977; Gombrich 1976; Pa-
nofsky 1977; Günther 1998.
12 Montaigne, Essais, 111.13;
vgl. von Moos 1988, 358, 709.
13 Rombach 1965,150ff.

und einfachen Verhältnissen in einer neuen
Form von Erziehung und breit gefächerter Aus-
bildung zusammen.
Ein neues Verständnis von Wissenschaft setz-
te sich durch.11 Montaigne prangerte den her-
kömmlichen Wissenschaftsbetrieb mit seinen
endlosen selbstgenügsamen Diskussionen
an: „Man bemüht sich mehr, Interpretatio-
nen zu interpretieren als Dinge zu verstehen,
und es gibt mehr Bücher über Bücher als über
irgend etwas anderes; wir glossieren uns nur
noch gegenseitig. Überall wimmelt es von Kom-
mentaren; wirkliche Autoren haben Selten-
heitswert."12 Die Fragestellungen versachlich-

ten sich in der Renaissance. Sie konzentrier-
ten sich auf das, was konkret fassbar war, statt
über höhere Probleme zu spekulieren, die man
nicht lösen konnte. Statt, wie es den Gelehr-
ten von alters her anstand, das Wesen der Din-
ge zu ergründen, statt Wert und Qualität von
ihnen abzuwägen und zu würdigen, traten
jetzt relativ simple Fragen nach der Beschaf-
fenheit und den Verhältnissen, trat die prä-
zise Beschreibung der äußeren Erscheinung
in den Vordergrund. „Ein Geist, der fähig ist,
die Dinge zu unterscheiden, folgt der Wahr-
heit mehr als derjenige, der nach dem Höchs-
ten in der Wissenschaft strebt"-das vermeint-
lich von Ptolemäus geprägte Wort markiert die
neue Haltung. Es steht sogar auf dem Grab-
mal Papst Sixtus' IV. (gest. 1484). Nicolaus Cu-
sanus (1401-64) setzte Messen und Erken-
nen schlechthin gleich. Für ihn wurde ein Wis-
sensgebiet erst dadurch zur Wissenschaft,
dass man vom qualitativen zum quantitativen
Standpunkt überwechselt, dass sich die Frage
nach der Substanz umwendet zur Frage nach
Erscheinung und Funktion und die Antwort
über den Weg der Messung erfolgt.13
Andreas Vesalius, einer der Protagonisten
der modernen Anatomie, beschrieb in seinem
Werk „De humani corporis fabrica" (1543) den
Ablauf herkömmlicher Vorlesungen: „Nach
unserem verachtenswürdigen Unterrichtssys-
tem gibt der Lehrer eine literarische Beschrei-
bung der verschiedenen Körperteile, während
ein anderer die Sektion der menschlichen Lei-
che durchführt. Der Dozent steht hoch auf sei-
nem Podium und doziert mit sichtlicher Ver-
achtung über Tatsachen, die er aus eigener
Erfahrung nicht kennt, sondern aus den Bü-
chern anderer gelernt hat oder gar aus dem
vor ihm liegenden Buch abliest. Diejenigen,
die die Autopsie durchführen, sind so unwis-
send, dass sie nicht in der Lage sind, den Schü-
lern die von ihnen präparierten Teile zu zeigen
und zu erklären; und da der Professor nie die
Leiche berührt und seinerseits der Bader die
lateinischen Bezeichnungen nicht kennt und
daher der Reihenfolge des Vortrags nicht fol-
gen kann, arbeitet jeder auf eigene Faust. Auf
diese Weise ist der Unterricht sehr schlecht;

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