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VI

Das Verhältnis zur Architektur der Antike und Gotik

2 Saalman 1996.
3 Goebel 1971,38-68;
D. Schmidt 1978.
4 Wittkower 1962,58; Borsi
1995.
5 Piccolomini (Pius II.) 1984,
IX.24.
6 Günther 2001/111,105.

standen, desto stärker verdorben; die Berufung
auf Vitruv an der Mailänder Dombauhütte ba-
siert auf Fehlern und ist zudem völlig wider-
sinnig.
Die Antikenstudien zeigen, dass die Rück-
besinnung auf die antike Architektur in der
Renaissance vom gleichen Geist wie die gan-
ze Erneuerungsbewegung getragen wurde.
Demnach sollte man denken, dass die Forde-
rung nach Wiederbelebung der Antike präzi-
se, klar und real nachprüfbar gemeint war. In
diesem Sinn verteidigte Alberti seinen Plan für
San Francesco in Rimini gegen einen Kritiker:
„Ich glaube mehr an diejenigen, die Thermen,
Pantheon und alle diese großartigen Dinge
schufen, als an ihn. Und viel mehr an die Ver-
nunft als an Personen. Und wenn er sich nur
auf Meinungen stützt, wundere ich mich nicht,
wenn er oft irrt."2
Viele humanistische Schriften des 15. Jahr-
hunderts gehen sorgfältig auf antike Architek-
tur ein. Sogar Beschreibungen von Phantasie-
bauten, wie in der „Hypnerotomachia Poliphi-
li" des Francesco Colonna (publ. 1499)3 oder in
Giangiorgio Trissinos „Italia liberata dai Goti"
(publ. 1547/48),4 halten sich präzise an die An-
tike. Aber das alles gehört nur in den Bereich
des Literarischen. Selbst die Traktate der Archi-
tekten bleiben weitgehend theoretisch, wenn
sie die Antike ansprechen.
Allenthalben wurde rhetorisch auf die An-
tike Bezug genommen. Das normalste Lob,
das einem Bau in der Renaissance gespendet
wurde, hieß, er sei in antikischer Weise gebaut.
Aber das darf man so wenig wie andere euphe-
mistische Redewendungen der Zeit wörtlich
nehmen. Papst PiusII. (1458-64) etwa rühm-
te an der Fassade des neuen Domes von Pien-
za, dass sie die Form antiker Tempel überneh-
me (Abb. 104).5 Als San Michele in Isola bei Ve-
nedig errichtet wurde, insistierte man in der
Umgebung des Bauherrn sogar darauf, dass
die Kirche nicht nur von Ferne an die Antike
erinnere, sondern ganz direkt antiker Art folge
(1477) (Abb. 163).6 Heute lassen sich solche Ek-
phrasen kaum noch konkret nachvollziehen.
Die antiken Säulenordnungen spielten in der
Baupraxis der Renaissance eine wichtige Rolle.

Aber im Übrigen unterscheidet sich die neue
Architektur markant von der Antike. Nur selten
wurde wirklich ein antiker Bau oder Bautyp
nachgeahmt. So nimmt der Chor der Santis-
sima Annunziata in Florenz als überkuppelte
Rotunde mit seitlichen Nischen die Disposition
kaiserlicher Mausoleen auf (vgl. Abb. 230,188).
Die Villa von Poggio a Caiano (vgl. Abb. 156),
die Lorenzo il Magnifico errichten ließ, ver-
weist mit ihren ausgefallenen Elementen, dem
Sockel und der tempelartigen Front, auf den
vermeintlichen Palast des Maecenas. Braman-
te gab dem Tempietto über der Martyrienstätte
Petri entgegen aller christlichen Bautradition
die Gestalt eines antiken Peripteros. Palladio
gestaltete den Convento della Caritä in Vene-
dig so, wie er sich ein typisches antikes Haus
vorstellte (vgl. Abb. 14). Aber das sind Aus-
nahmen, und selbst in solchen Fällen blieb
es bei der Rezeption einzelner Elemente; der
Charakter wandelte sich im Ganzen grund-
legend. Die Ausgestaltung-sowohl der karge
Dekor als auch der weiße Anstrich der Wän-
de statt bunter Verkleidung mit kostbaren Stei-
nen-verstärkte noch den Unterschied. Selbst
die Rezeption der Säulenordnungen blieb oft
ziemlich theoretisch, weil die Säulen ganz an-
ders als in der Antike eingesetzt wurden. Es
stellt sich also die Frage, wie es zu verstehen
ist, wenn die Antike als Leitbild der Architek-
tur hingestellt wurde.
Vorstellungen von der antiken Architektur
Die Forderung, die Antike nachzuahmen, ent-
stand nicht infolge einer Auseinandersetzung
mit ihr, sondern ist ihr vorausgegangen. Erst
waren die Vorstellungen da, dann folgten die
Kenntnisse. Archäologischer Rückblick und
idealistische Vorausschau in die Zukunft ver-
schmolzen unauflöslich zu einer Art von retro-
spektiver Utopie (Abb. 164).
Das Bild von der Antike war in der Renais-
sance weitgehend durch Rom und manch-
mal durch prominente einheimische Relikte
wie San Lorenzo in Mailand bestimmt (vgl.
Abb. 46). Damals war erheblich mehr als heu-
te erhalten. In Rom sah man statt vereinzelter
Monumente oder Ausgrabungen noch gan-

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