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Das Verhältnis zur Architektur der Antike und Gotik


A183: Johanneskirche,
Crailsheim (Schwäbisch
Hall). Korbbögen in archi-
tektonischen Formen und
in Form von Astwerk am
Tabernakel (Endres Emb-
hart d.J., dat. 1499).

te gehalten, dass er doch eine gewisse Ratio be-
sitze, weil er die Natur nachahmen würde. Er
sei nämlich aus lebenden Ästen entstanden, die
man oben zusammengebunden habe (Abb. 183)
(vgl. Abb.54). Aus der Vorstellung, die Germa-
nen hätten, als sie noch in Wäldern lebten, die
Zweige der Bäume oben zusammengebun-
den, um ein Dach über dem Kopf zu haben,
leitete Baldassare Peruzzi 1529 die Entstehung
der Gewölbe ab. In einem Entwurf für ein Ar-

chitekturtraktat (1529) notiert er zur Abhand-
lung über Tempel mit Gewölben, „daß ihre
Disposition aus den Bäumen hervorging, Pfei-
ler und Säulen bildeten sich aus deren Stäm-
men, die Gewölbe aus den Ästen".73
Peruzzis Vorstellung passt am besten zu spät-
gotischen Hallenkirchen. Deren hohen Rund-
pfeiler, von denen allseits die Rippen abgehen,
oft nicht einmal durch Kapitelle abgesetzt und
sogar bewusst unregelmäßig ansetzend, glei-
chen wirklich Bäumen (Abb. 179). Übrigens
wurde ein solcher Vergleich schon im 15. Jahr-
hundert angestellt. Die Ableitung des Spitzbo-
gens von den oben zusammengebundenen Äs-
ten ist im spätgotischen Astwerk, das während
der Frührenaissance in Deutschland verbreitet
war, mehrfach um 1480 buchstäblich illustriert:
Da werden Korbbögen, die regelrecht aus abs-
trakten Architekturformen gebildet sind, kon-
frontiert mit Korbbögen, die aus Nachbildun-
gen von natürlichen Ästen gebildet sind, und
die Äste sind oben sogar zusammengebunden
(Abb.183).74
Der Vergleich mit dem Wald klingt noch
einmal in der französischen Architekturthe-
orie der Renaissance an. Philibert de l'Orme
empfiehlt Portiken mit Säulen, die wie Baum-
stämme geformt sein sollen, weil sie „die Dar-
stellung eines kleinen Waldes" bildeten.75 Im
Übrigen wurde die Entwicklungstheorie für
den Spitzbogen und Gewölbebau in der Re-
naissance nicht mehr rezipiert. Auch nicht in
Deutschland. Erst im Zuge der Neugotik leb-
te die Ableitung der Architektur aus den Wäl-
dern wieder auf.

73 Günther 1990/1,160.
74 Günther 2001/1,13-32.
75 De l'Orme 1648,217v.

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