EINLEITUN G
Die Volkskunst in der Volkskunde
und Kunstwissenschaft
Der Begriff des Volkstums und die von ihm abgeleiteten Begriffe
einer Volks- und Völkerkunde, einer Volksdichtung und Volks-
kunst sind wie alle die Themen und Probleme, die sich aus der Unter-
suchung und Darstellung von Äußerungen geschlossener Menschen-
gemeinschaften oder eines Volkes ergeben, wenig älter als hundert
Jahre. Sie entstehen im 18. Jahrhundert, in den geistigen Strö-
mungen der Aufklärung, als die Feudalzeit von dem demokratischen
Zeitalter abgelöst wurde, als sich der Staats- und Bildungsbegriff von
den großen Autoritäten, Fürstentum und Kirche, von der ständischen
Gliederung und dem kirchlich-klassischen Weltbild loszulösen
begann, als neue Auffassungen von Staat, Recht und Bildung und
neue weltanschauliche Ideale in den Vordergrund traten. Diese
Ideale waren allgemein-menschlicher und internationaler Art. Sie
erweiterten den Blick über Standes-, Landes- und Volksgrenzen
hinaus zur Erkenntnis der gemeinsamen geschichtlichen, wirtschaft-
lichen, geistigen und physischen Merkmale der Menschheit. Mit der
beginnenden Entwicklung eines Weltverkehrs und einer Weltwirt-
schaft erhielten die wissenschaftlichen Bestrebungen zur vergleichen-
den Erforschung der verschiedenen Völker und Rassen und ihres mate-
riellen und geistigen Kulturbesitzes eine vereinheitlichende Richtung.
Diese übernationalen Menschheits- und völkerkundlichen Bestre-
bungen fanden aber bald eine auf die nationale Einstellung gerichtete
volkskundliche Ergänzung. Die Mahnung „zurück zur Natur", die bei
Rousseau noch allgemeinen Sinn hatte, wurde durch die roman-
tischen Strömungen in Europa am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer
Bewegung, die im Wesen und Schaffen des national und regional ge-
bundenen Menschen, also im historisch gewachsenenVolkstum und be-
sonders im anonymen Schaffen der breiten bäuerlichenVolksschichten
ein Grundelement schöpferischer Tätigkeit erblickte. Die großen frei-
heitlichen Literaturkämpfe der Sturm- und Drangperiode fanden in
der Volksdichtung ihre stärksten Anregungen. Die Entdeckung der
Volksepen, die Begeisterung für Ossian, für die Gestalten Shake-
speares, für die Welt des Mittelalters wurde zugleich Anlaß zu einer
Die Volkskunst in der Volkskunde
und Kunstwissenschaft
Der Begriff des Volkstums und die von ihm abgeleiteten Begriffe
einer Volks- und Völkerkunde, einer Volksdichtung und Volks-
kunst sind wie alle die Themen und Probleme, die sich aus der Unter-
suchung und Darstellung von Äußerungen geschlossener Menschen-
gemeinschaften oder eines Volkes ergeben, wenig älter als hundert
Jahre. Sie entstehen im 18. Jahrhundert, in den geistigen Strö-
mungen der Aufklärung, als die Feudalzeit von dem demokratischen
Zeitalter abgelöst wurde, als sich der Staats- und Bildungsbegriff von
den großen Autoritäten, Fürstentum und Kirche, von der ständischen
Gliederung und dem kirchlich-klassischen Weltbild loszulösen
begann, als neue Auffassungen von Staat, Recht und Bildung und
neue weltanschauliche Ideale in den Vordergrund traten. Diese
Ideale waren allgemein-menschlicher und internationaler Art. Sie
erweiterten den Blick über Standes-, Landes- und Volksgrenzen
hinaus zur Erkenntnis der gemeinsamen geschichtlichen, wirtschaft-
lichen, geistigen und physischen Merkmale der Menschheit. Mit der
beginnenden Entwicklung eines Weltverkehrs und einer Weltwirt-
schaft erhielten die wissenschaftlichen Bestrebungen zur vergleichen-
den Erforschung der verschiedenen Völker und Rassen und ihres mate-
riellen und geistigen Kulturbesitzes eine vereinheitlichende Richtung.
Diese übernationalen Menschheits- und völkerkundlichen Bestre-
bungen fanden aber bald eine auf die nationale Einstellung gerichtete
volkskundliche Ergänzung. Die Mahnung „zurück zur Natur", die bei
Rousseau noch allgemeinen Sinn hatte, wurde durch die roman-
tischen Strömungen in Europa am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer
Bewegung, die im Wesen und Schaffen des national und regional ge-
bundenen Menschen, also im historisch gewachsenenVolkstum und be-
sonders im anonymen Schaffen der breiten bäuerlichenVolksschichten
ein Grundelement schöpferischer Tätigkeit erblickte. Die großen frei-
heitlichen Literaturkämpfe der Sturm- und Drangperiode fanden in
der Volksdichtung ihre stärksten Anregungen. Die Entdeckung der
Volksepen, die Begeisterung für Ossian, für die Gestalten Shake-
speares, für die Welt des Mittelalters wurde zugleich Anlaß zu einer