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Hartlaub, Gustav Friedrich; Heise, Carl Georg [Hrsg.]
Das neue Bild: Bücher für die Kunst der Gegenwart (Band 2): Kunst und Religion: ein Versuch über die Möglichkeit neuer religiöser Kunst — Leipzig, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.16795#0118
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EXKURS I: PARALLELEN

DIE geistigen Lebensäußerungen einer Zeit müssen in ihrer Vielfältigkeit und Verschieden»
artigkeit so betrachtet werden können, als gingen sie aus einer einzigen, Form und
Trieb bestimmenden Wurzel hervor. Was ihnen gemeinsam ist, ist nur in zweiter Linie
Ergebnis von Berührung, Einfluß, Verschränkung, sondern es ist herzuleiten aus der Iden*
tität der Wurzel. Erst sie bewirkt die Aufnahmefähigkeit für gegenseitige Einflüsse.
Wollen wir die Grundrichtung und »möglichkeit des weltanschaulichen Willens unserer Zeit
richtig deuten, so muß jede Einzelhervorbringung auf den verschiedenen Gebieten geistiger
Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt heute irgendwie von einer Grundrich-
tung oder <als naturnotwendige Reaktion) von der Absicht zu ihrer Verneinung durch*
färbt sein.

Diese Grundrichtung müßten wir, um sicher zu gehen, zunächst besser nicht in der bildenden
Kunst — denn der Maler und Bildner ist »stumm«, seine Sprache die stumme Form, die
erst umständlich in Worte übersetzt werden muß —, sondern bei denen suchen, welchen das

»Wort« verliehen ist, bei den Denkern und Dichtern. Indessen auch des Dichters und der

j

Dichtung Grundwille ist nicht aus dem abzulesen, was er sagt, sondern aus dem »Wie«,
mithin wiederum der »Form«, dem Stil, dessen Richtungsbeschaffenheit gleichfalls erst in Be-
griffe übersetzt werden müßte. Es sei denn, daß der Dichter mehr oder anderes sein wollte
als nur Künstler, und daß er die Absicht hätte, auch durch das »Was«, den »Inhalt« zu
sprechen. Dies ist nun heute bis zu gewissem Grade der Fall.

In dem einen Punkte scheint die jüngere Generation einig zu sein: Der Dichter soll auch
Denker, der Künstler Lebenslehrer sein, vielleicht sogar Prophet"). Diese von Nietzsche zum
ersten Mal in einem Jahrhundert des »l'art pour l'art« und der reinen, exakten Einzelwissen»
schalten wieder vollzogene Synthese schwebt auch den Jüngeren vor. Man hat erkannt, daß
eine reine Philosophie, je wissenschaftlicher und exakter sie ist, heute um so weniger noch das
zu geben vermag, was der Menschenseele letzte bestimmende Richtung gibt, ebensowenig,
wie eine nicht auf Religion und Metaphysik gegründete Ethik.

*> Vorab freilich kann man gewiß nur von einem Sehertum in dem übertragenen, mit unserem auf-
geklärten Denken vereinbaren Sinne einer poetisch~symbolisch gesteigerten Phantasie die Rede sein.
Von den alttestamentlidien Propheten dagegen denken wir gewiß nur richtig, wenn wir sie nicht nur
als Meister des gesteigerten Wortes, sondern auch als wirkliche Seher vorstellen. Damals war Seher
und Sänger eines. Heute dagegen sind gerade die Ansätze zu wirklichem Sehertum fast immer mehr
oder weniger, wenn nicht mit Schwachsinn so doch mit krassem Dilettantismus oder Charlatanerie
verknüpft. Sie finden aus diesem Grunde nicht die ihnen dennoch gebührende Beachtung. Man bedenke,
wie selbst ein Swedenborg nach einer Epoche höchsten, streng wissenschaftlichen Erfolges gleichsam
zu stammeln begann, als er in die »übersinnlichen Welten« eingedrungen sein wollte. Wie würde ein
Swedenborg, von dessen Visionen Balzac so hingerissen war, auf das Jahrhundert gewirkt haben,
hätte er das »Wort« gehabt! — Wird die Zukunft die alte Einheit wiederbringen, wenn auch auf
höherer Stufe der Bewußtheit?

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