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Hartlaub, Gustav Friedrich; Heise, Carl Georg [Hrsg.]
Das neue Bild: Bücher für die Kunst der Gegenwart (Band 2): Kunst und Religion: ein Versuch über die Möglichkeit neuer religiöser Kunst — Leipzig, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.16795#0123
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EXKURS II: ZUM GEGENSTANDSPROBLEM

ALLES Gegenständliche in der Kunst hat prinzipiell keine andere Bedeutung als die des
.Programms in der symphonischen Musik oder des Textes im Liede. Die pro-
grammatische Vorbemerkung einer Symphonie stellt im Hörer diejenigen Vorstellungen bereit,
mit denen die im Tonwerk ausgedrückten Gefühle gemeinhin verknüpft sind, und sie erleichtert
so die richtige Auffassung und Ausdeutung durch sein Gefühl. Indessen entspricht es der Be-
sonderheit des musikalischen Ausdruckes und der hier dargestellten Gefühle, daß eine solche
Vorbereitung nur in gewissen Fällen erforderlich und wünschenswert ist. Die meisten musika-
lischen Stimmungen und Empfindungen sind so abstrakt und allgemein und sie sprechen sich
durch die Sprache des Tones, der Harmonie, Melodie, des Rhythmus so unmittelbar aus,
daß sie durch Verknüpfung mit bestimmten Vorstellungsassoziationen nur in ihrer Unendlich-
keit gleichsam eingeschränkt werden würden. Die Beachtung eines Programmes oder Lieder-
textes als Grundlage der Illustration würde nur vom musikalischen Hauptzweck, dem eigent-
lichen formalen Bau des Kunstwerkes, ablenken. Erst auf einer späteren, romantisch-barocken
Stufe der Musik, welche sinnlichere, mehr »malerische« Gefühle darzustellen liebt, werden Text
und Programm wichtiger.

In der bildenden Kunst liegt es aber anders. Gewiß ist theoretisch eine »absolute Malerei«,
selbst eine »absolute Plastik« denkbar, die in der Ordnung von Farbe und Form in Fläche
und Raum sowohl eine bestimmte Anwendung der ewig gültigen künstlerischen Gestaltungs-
gesetze, als auch ein Symbol der besonderen Gefühlserlebnisse des Künstlers gibt, ohne den
Ursprung dieser Gefühle und ihre Bestimmtheit durch gewisse Vorstellungen zu verraten. Ge-
wisse elementare Allgemeingefühle lassen sich wohl auch, ohne Zuhilfenahme gegenständ-
licher Verknüpfungen, durch die Form- und Farbzeichen verständlich übertragen. Es gibt
heitere und düstere, warme und kalte Farben, aufrechte, stolze, tanzende und gedrückte
Formen usw. Die so mit einiger Deutlichkeit ausdrückbaren Gefühlsreihen sind aber doch
sehr begrenzt und sie liegen gleichsam in einer so dünnen, luftarmen Schicht, daß der Künstler
und sein Publikum darin auf die Dauer nicht atmen können. Im Grunde sind es auch heute
nur ganz wenige Künstler, die mit ihnen auskommen. Selbst der abstrakteste Kubismus
von heute verhüllt die gegenständliche Beziehung nur, indem er auf eine naturgemäße Nach-
ahmung verzichtet. Fehlt aber die gegenständliche Beziehung ganz, wie etwa in den »Kom-
positionen« Kandinskys, so ist die Wirkung merkwürdig begrenzt und eintönig, es klingen
seltsame, unfaßbare, gleichsam kosmische oder elementare Urempfindungen an und ab, die
sich noch nicht zur festen Vorstellung verdichtet zu haben scheinen. Das Merkwürdigste ist,
daß gerade an diesem Punkte, wo es sich doch um intimste Gefühlsmitteilung handeln soll,
das ungeschulte Auge überhaupt keine Ausdrucksgebilde zu gewahren glaubt, sondern rein
ornamentale Formenspiele, zufällige Naturgebilde oder eine Mischung von beiden. Dieser
Irrtum ist höchst bedeutungsvoll: jene gegenständlich gleichsam nicht umrandeten Gefühle

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