Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Chaniotis, Angelos [Hrsg.]; Berg, Manfred [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Überzeugungsstrategien — Berlin, Heidelberg [u.a.], 52.2008 [erschienen 2009]

DOI Artikel:
Nünning, Vera: Wie überzeugt Literatur?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11274#0108
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Wie überzeugt Literatur?

Eine kleine Rhetorik des Erzählens

VERA NÜNNING *

i Vom Belehren zum Belügen? Zur Wirkung von Literatur

Die Frage nach der Überzeugungskraft von Literatur ist ebenso interessant wie
umstritten, denn im 19. Jahrhundert hat sich im westlichen Kulturkreis die Auf-
fassung durchgesetzt, dass der Sinn und Zweck literarischer Werke nicht darin
besteht, zu überzeugen und zu belehren. Schon im Anschluss an Kants Konzep-
tion vom „interesselosen Wohlgefallen" (in dem alle menschlichen Vermögen
in einer Weise ins Spiel gesetzt werden, die gerade dadurch eine bildende Be-
deutung bekommt, dass kein spezifisches Ziel verfolgt wird) ist immer wieder
darauf hingewiesen worden, dass die Horazsche Formel von prodesse et delec-
tare, vom Nutzen und Erfreuen, eingeschränkt werden muss. Heute geht man
im westlichen Kulturkreis davon aus, dass Literatur keinen direkten Bezug zur
Wirklichkeit hat und daher auch nicht im herkömmlichen Sinne belehren kann
oder auch nur sollte. Oscar Wilde - der im Übrigen bei genauerem Hinsehen
eine sehr hohe Auffassung von der bildenden Bedeutung der Kunst vertritt -
hat dies auf die provokative Formel gebracht, dass es die Aufgabe der Literatur
sei, zu lügen, und zwar auf eine schöne, betörende Weise (Wilde 1891).

Nun ist bekannt, dass diese Kunstauffassungen Oscar Wilde zum Vorwurf
gemacht wurden, als er sich 1897 vor Gericht verantworten musste. Die aufge-
brachten Viktorianer gaben sich mit nichts weniger als der Höchststrafe für
seine Vergehen zufrieden - mit einer Art der Inhaftierung, die ihn nur kurze
Zeit nach der Entlassung, mit gerade einmal 46 Jahren, sterben ließ. Obgleich
sich Wildes Auffassung von der Autonomie des Kunstwerks im 20. Jahrhundert
weitgehend durchsetzte und Literaturprozesse sowie die Kriminalisierung von
Autoren aus der Mode geraten sind, gibt es eine ganze Reihe von neueren
kritischen Ansätzen (vgl. etwa Zimmermann 2006), die Literatur als einen
wichtigen Träger ethischer Werte begreifen und ihr ein großes Überzeugungs-
potential zusprechen. Diese Überzeugungskraft wird teilweise durchaus als
gefährlich eingestuft, und dies nicht nur von Fundamentalisten. Vielmehr be-

Prof. Dr. vera Nünning ist Professorin für Englische Literatur (2002-) und Prorektorin
(2006-) der Universität Heidelberg.
 
Annotationen