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Chaniotis, Angelos [Editor]; Berg, Manfred [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Überzeugungsstrategien — Berlin, Heidelberg [u.a.], 52.2008 [erschienen 2009]

DOI article:
Steinhoff,Christine: "Was kläfft ihr denn?"
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.11274#0133
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n8

Christine Steinhoff

Verstehbarkeit ist hier abgelöst durch den Versuch, eine These nicht nur zu
sagen, sondern auch zu zeigen, d. h. durch die Form anschaulich zu machen.

Anders als in der antiken Rhetorik, welche den Inhalten (res) den unbe-
dingten Vorrang gegenüber der sprachlichen Formulierung (verba) einräumt,
ist hier die Form nicht nur ein eigener, wichtiger Sinnträger, sondern parti-
ell auch ästhetischer Selbstzweck. Zumindest läßt sich an der regelmäßigen
Reimstrophenform ein Gestaltungswille ablesen, der Wortverbindungen wie
„Marmor Milets" und „Fatum. Flamingohähne" möglicherweise aus primär
klanglichen Gründen Zustandekommen läßt. Der aggressive Nihilismus, der in
diesem Gedicht vorgebracht wird, ist durch die offensichtliche Lust an Wort-
spiel, Rhythmus und Reim abgefedert. Nicht jedes beobachtbare Textphäno-
men ist der Überzeugungsabsicht funktional untergeordnet.

4 „Ein Kunstwerk argumentiert nicht" ?

„Ein Kunstwerk argumentiert nicht" (Bachmann 1978,112). Mit diesen Worten
versuchte Ingeborg Bachmann einmal den literarischen vom philosophischen
Diskurs abzugrenzen. Natürlich ist Literatur, wie auch die Untersuchung der
beiden Gedichte Gottfried Benns ergeben hat, in vielerlei Hinsicht von einem
rein argumentativen Sachtext unterschieden. Dennoch hat Bachmann nicht
ganz Recht. Dieselben Argumentationsmuster, durch die sich etwa eine poli-
tische Rede oder eine wissenschaftliche Abhandlung auszeichnen, lassen sich
auch in einem literarischen Text wiederfinden. Wie aus dem Überblick und der
exemplarischen Gedichtanalyse hervorging, begegnen in der Literatur die aus
Rhetorik und Argumentationstheorie bekannten Persuasionstechniken, ent-
weder in ,Reinform' oder vor allem in einer spezifisch lyrischen, narrativen
oder dramatischen Ausprägung. Insbesondere in der sogenannten schönen
Literatur, die sich keinen offenkundigen politischen Zielen verschreibt, sind
diese Überzeugungsstrategien nicht immer gleich ersichtlich. Überdies wer-
den sie von dieser Textsorte zu wenig erwartet, als daß eine entsprechende
Rezeptionshaltung eingenommen werden würde. Angesichts dessen vermag
eine Betrachtung unter dem Aspekt der Persuasion eine neue Perspektive auf
ein literarisches Werk zu eröffnen.

Untersucht man die weltanschaulich intendierten Romane, Dramen und
Gedichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so ist neben der forma-
len Realisierung der Überzeugungsabsicht, wie sie hier hauptsächlich in den
Blick gekommen ist, vor allem auch die ideologische Verankerung der Texte
untersuchenswert. Indem die freigelegten Überzeugungsstrategien auf die ih-
nen zugrundeliegenden Ideen und ihren problemgeschichtlichen Kontext hin
befragt werden, gewinnt eine solche Analyse über das literaturwissenschaftli-
che Interesse hinaus auch im Hinblick auf die Reflexion der politischen Kultur
und Geistesgeschichte Relevanz.
 
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