XVI
EINLEITUNG
der eigenen Umgebung vermisste, suchte man in der Ferne, beiden Chinesen und
auf einsamen Eilanden, und im seligen Kindesalter; Goethe’s Mignon ist ein Bei-
spiel für Letzteres, und beides vereinigt tritt im rührenden Roman der Kinder Paul
und Virginie hervor. Vorläufig bleibt dieser Liebe zur Natur noch ein Rest der
tändelnden Grazie des Rokoko. Es ist die Stimmung Salomon Gessner’s, dieselbe,
aus der heraus Johann Peter Melchior in den siebziger Jahren in zahlreichen
Gruppen die schlichte Poesie des Kinderlebens in idyllischer ländlicher Umgebung
in delikatem Geschmacke im Porzellan verherrlicht. Es ist die Entstehungszeit
grade der süddeutschen Porzellanfiguren, und in dieser Zeitströmung teilt sich
grade ihnen ein wertvoller naturalistischer Zug mit. Melchiors Kunst ist bürger-
lich, die Leidenschaft des Rokoko hat sich zu schlichter, inniger Wärme abge-
kühlt, die schon zur Kühle der antikisierenden Zeit überleitet; bisweilen erinnern
die schlichten, fast hausbackenen Genreszenen dieses Düsseldorfers (wir dürfen
ihn doch wohl so nennen) schon an die Genrekunst der Düsseldorfer Schule
unseres Jahrhunderts und die intime Idylle eines Ludwig Richter.
Aber der delikate Ausklang des Rokoko, der sich im Louis XVI. äussert,
bildet in Deutschland mehr noch als in Frankreich nur vorübergehende Erschein-
ung: „Den Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts fehlt im Ganzen doch der
Sinn für jene zierliche Grazie, jene ästhetische Feinschmeckerei, welche das
Louis XVI in seiner Reinheit zur Voraussetzung hat. Teils lebt sich bei uns
das Rokoko langsamer aus, teils nimmt der neue Stil in Deutschland eine andere
Richtung.“32)
„Bei der Mehrzahl der Deutschen Porzellanmanufakturen“, urteilt ein Kenner
wie Ernst Zais, „ist ein Nachleben des Rokoko augenscheinlich.“33) So klang in
Süd-Deutschland, während in Frankreich das Rokoko unter dem Spott eines
Cochin bereits zu Grabe getragen wurde, im „Augsburger Geschmack“ der Stil
noch einmal in eine überströmende, üppige Tollheit aus, wie sie im Mutterlande
dieses Stiles wohl nie gesehen wurde; ein Rest der übersprudelnden Bildnerkraft
des Barock mochte hierin von Augsburg, dem Sitz kunstgewerblicher Thätigkeit seit
der Spätrenaissance und durch das siebzehnte Jahrhundert hindurch, sicherhalten
und auf die Generation der Augsburger Ornamentisten des Rocaillestiles, die
Habermann, Nilson etc. übertragen haben. Wie die Rheinlande, das Mutterland
Melchiors, der französischen Grenze benachbart sind, so lag Bayern Italien mit
EINLEITUNG
der eigenen Umgebung vermisste, suchte man in der Ferne, beiden Chinesen und
auf einsamen Eilanden, und im seligen Kindesalter; Goethe’s Mignon ist ein Bei-
spiel für Letzteres, und beides vereinigt tritt im rührenden Roman der Kinder Paul
und Virginie hervor. Vorläufig bleibt dieser Liebe zur Natur noch ein Rest der
tändelnden Grazie des Rokoko. Es ist die Stimmung Salomon Gessner’s, dieselbe,
aus der heraus Johann Peter Melchior in den siebziger Jahren in zahlreichen
Gruppen die schlichte Poesie des Kinderlebens in idyllischer ländlicher Umgebung
in delikatem Geschmacke im Porzellan verherrlicht. Es ist die Entstehungszeit
grade der süddeutschen Porzellanfiguren, und in dieser Zeitströmung teilt sich
grade ihnen ein wertvoller naturalistischer Zug mit. Melchiors Kunst ist bürger-
lich, die Leidenschaft des Rokoko hat sich zu schlichter, inniger Wärme abge-
kühlt, die schon zur Kühle der antikisierenden Zeit überleitet; bisweilen erinnern
die schlichten, fast hausbackenen Genreszenen dieses Düsseldorfers (wir dürfen
ihn doch wohl so nennen) schon an die Genrekunst der Düsseldorfer Schule
unseres Jahrhunderts und die intime Idylle eines Ludwig Richter.
Aber der delikate Ausklang des Rokoko, der sich im Louis XVI. äussert,
bildet in Deutschland mehr noch als in Frankreich nur vorübergehende Erschein-
ung: „Den Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts fehlt im Ganzen doch der
Sinn für jene zierliche Grazie, jene ästhetische Feinschmeckerei, welche das
Louis XVI in seiner Reinheit zur Voraussetzung hat. Teils lebt sich bei uns
das Rokoko langsamer aus, teils nimmt der neue Stil in Deutschland eine andere
Richtung.“32)
„Bei der Mehrzahl der Deutschen Porzellanmanufakturen“, urteilt ein Kenner
wie Ernst Zais, „ist ein Nachleben des Rokoko augenscheinlich.“33) So klang in
Süd-Deutschland, während in Frankreich das Rokoko unter dem Spott eines
Cochin bereits zu Grabe getragen wurde, im „Augsburger Geschmack“ der Stil
noch einmal in eine überströmende, üppige Tollheit aus, wie sie im Mutterlande
dieses Stiles wohl nie gesehen wurde; ein Rest der übersprudelnden Bildnerkraft
des Barock mochte hierin von Augsburg, dem Sitz kunstgewerblicher Thätigkeit seit
der Spätrenaissance und durch das siebzehnte Jahrhundert hindurch, sicherhalten
und auf die Generation der Augsburger Ornamentisten des Rocaillestiles, die
Habermann, Nilson etc. übertragen haben. Wie die Rheinlande, das Mutterland
Melchiors, der französischen Grenze benachbart sind, so lag Bayern Italien mit