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Hirt, Aloys Ludwig
Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten (Text) — Berlin, 1809

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https://doi.org/10.11588/diglit.1740#0222
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— 200 *-

Frau, und das Zierliche und Schlanke mit dem der Jungfrau zusammenhielten. Es läfst sich
aber die Vergleichung der Bauwerke mit der menschlichen Gestalt noch in einer andern
Rücksicht fortsetzen. Unwillkührlieh beurtheilen wir das Innere eines Menschen nach sei*
nem Aenfsern, und wir können uns nicht versagen, von einem Menschen vortheilhaft zu
denken, dessen Aeufseres uns einnimmt. Eben so verhalt es sich mit den Werken der Bau-
kunst. Jedes Gebäude hat seine eigenthiimliche Physiognomie: und nach der äufsern Ansicht
beurtheilen wir die innere Bestimmung eines Baues: wir beurtheilen darnach die Festigkeit,
die Zweckmäfsigkeit zu einem bestimmten Gebrauch, und die Annehmlichkeit, welche die
Ansicht der innern Abtheilungen gewähren soll. Ein Baukünstler erweiset also sein Talent
dadurch, dafs er das Aeufsere und Innere eines Ganzen harmonisch auffafst, oder dafs die
Wirkung, womit das Gemüth bey der Ansicht des Aeufsern erfüllt wird, der innern Anlage
entspricht.

Die Kunst hat einen unermefslichen Spielraum, und wer ihre Grundsätze mit steter
Rücksicht auf ein charakteristisches Ganze verfolgt, darf sich, ohne je die Schranken dersel-
ben zu überschreiten, vor dem Ermüdenden der Einförmigkeit nicht fürchten. Nur mufs
der Architekt den Umfang seiner Kunst kennen, für die zarten Abweichungen und Verschie-
denheiten, welche den Effekt der verschiedenen Baue abändern, Gefühl haben, und bey je-
der Anlage das Passende, wodurch sich ein Bau unterscheiden soll, zu wählen wissen. Schon
aus dem, was wir in den frühern Abschnitten von den verschiedenen Säulenordnungen, und
der Wahl ihrer verschiedenen Zwischenweiten gesagt haben, geht hervor, dafs es sehr man-
nigfaltige Abstufungen giebt, nach welchen der Architekt die Wirkungen seiner Baue ein-
richten kann.

Aber nicht blofs die freyen Säulenstellungen, auch der Bau der Arkaden gewährt eine
grofse Verschiedenheit von Ansicht. Anders ist der Effekt, wenn man sie in blofsen Mauer*
p feilern, und anders wenn man sie mit Pilastern oder Halbsäulen aufführt. Viel hängt von
dem Verhältnifs der Stärke der Pfeiler zu der Breite der Bogenöffhungen ab, viel von dem
Verhältnifs dieser Breite zur Höhe, viel von der Bildung der Kämpfer und der Frontbogen,
nachdem man nämlich sie mehr oder weniger einfach läfst, oder mehr oder weniger ziert. /

Noch mannigfaltiger ist die Wirkung bey dem Bau der Stockwerke in Fensteröffnungen.
Auch hier werden die Mauerpfeiler entweder ganz einfach, oder mit Pilastern oder mit HahV
Säulen aufgeführt. Auch hier hängt sehr viel von dem Verhältnifs der Stärke der Mauer-
pfeiler zu der Fensterbreite ab, und dann wieder von den Verhältnifs der Fensterbreite zur
Höhe. Die Stärke der Mauerpfeiler kann bald schmal bis zur Magerkeit, bald breit bis zum
Schwerfälligen und Finstern ausfallen. Hiezu kommt noch die Verschiedenheit der drey
Fenstergattungen, wovon eine jede für sich wieder kleine Abweichungen in den Verhältnis-
sen, in der Bearbeitung und in den Verzierungen zuläfst. Jede Abänderung aber, so klein
sie auch scheinen mag, ändert zugleich die Ansicht und den Effekt.

Hier haben wir blofs die mannigfachen Abänderungen in Betracht gezogen, wie sie bey
einzelnen Stockwerken vorkommen. Noch eine gröfsere Mannigfaltigkeit aber erwachsenen
Gebäuden durch die Stockwerke über einander, und zwar nicht blofs dadurch, dafs die Ge-
schosse unter sich eine sehr mannigfache Einrichtung zulassen, sondern auch in Rücksicht der
ganzen Massen der Gebäude nach Breite, Länge und Höhe. Die Kunst hat also ihrer innern
Natur nach hinlänglich dafür gesorgt, dafs bey all ihrer Nüchternheit, und bey all der'schein-
bar scharfen Begränzung ihres Umfanges nie eine ermüdende Gleichförmigkeit entstehen kann.
Der Architekt, welcher den Umfang seiner Kunst kennt, und in jedem Falle das Passende, das
für den Endzweck Charakteristische, zu wählen weifs, darf nie über die treffende Wirkung sei-
ner Baue verlegen seyn. Jedes seiner Gebäude wird eine eigenthümliche Physiognomie an
sich tragen, und keines blofs die Kopie des andern seyn.

Acht-
 
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