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hältnissen, ein anderer Geist der Verzierung wechselt die Ansichten, erfordert neue Berechnung,
giebt neue Resultate. Alle diese veränderten Umstände, Lagen, Maafse und Ansichten er-
mifst der Architekt in seinem Geiste, und jedes neue Werk, das aus seinen Händen hervor-
geht, trägt ein neues Gepräge, einen neuen Charakter. Es scheint manchmal dasselbe und
ist nie dasselbe; und die verschiedenen Werke eines trefflichen Meisters ha"ben nur in so
fern Aehnlichkeit unter sich, als sie alle Schöpfungen eines und desselben richtig denkenden
und richtig empfindenden Wesens sind. Aber ob es je einen solchen Architekten, einen so
vollendeten Bau gegeben, ob beides auch nur möglich sey; die Antwort auf diese Fragen
wird bei der Architektur schwerlich anders ausfallen können, als bey allem andern mensch-
lichen Wissen und Streben. Aber Avenn auch das vollendete blofs in der Idee vorhanden
ist, so dürfen wir doch deswegen solche Ideale nie aus den Augen verlieren: sie sind als
das Ziel unseres Strebens aufgestellt. Das Bemühen jedes einzelnen mufs immer seyn, sich dem
Urbilde zu nähern und jedes Werk, so viel es möglich ist, der Vollendung nahe zu brin-
gen. Nur der Künstler, der mit diesem Streben geboren, und früh in einer trefflichen Schu-
le die wahre Richtung erhalten hat, kann jener Vorzüge sich bewufst seyn, welche den Mei-
ster unter seinen Zeitgenossen geehrt, und bey den Nachkommen unvergefslich machen.
'!
Sechster Abschnitt.
Von der Entstehung der Baukunst, und von dem Verhältnifs der Zimmerkunst zu dem Steinbau im Allgemeinen.
§. i. Wenn man von dem Ursprung der Baukunst spricht, so pflegt man gewöhnlich
entweder die Hütte, oder die Höhle, oder beyde zugleich für die Vorbilder derselben auszu-
sehen: und so hat man auch die Architektur unter die nachahmenden Künste zählen wollen.
Allerdings wohnten die Menschen anfänglich theils in Holden, theils in Hütten; allein man
war hiedurch noch weit entfernt, ein Vorbild zur Nachahmung vor sich zu haben.
Die Höhle konnte nie als Vorbild dienen. Die Natur durch die Bildung ihrer Klüfte
und Grotten enthüllte dem Menschen keine Gesetze, nach welchen er vermögend gewesen
wäre, aus einzelnen Steinmassen ein Ganzes, der Naturhöhle Aehnliches, zusammenzusetzen.
Er sah Felsenwände und einzelne Stützen, über welche sich andere Massen unförmlich hin-
wölbten. Aber wozu konnte ihm dieser Anblick verhelfen? Allenfalls konnte er lernen aus
einzelnen Steinen Wände und Stützen zusammenzuschichten; aber wie dann sie unter sich
verbinden? wie sie überdecken? Die Naturwölbung lehrte ihn weder das Prinzip, die Steine
konzentrisch zu schneiden, noch die Geheimnisse der Mörtel und Kitte. Die Menschen kön-
nen Jahrhunderte in Naturhöhlen wohnen, ohne dadurch einen bedeutenden Schritt in , der
eigentlichen Construction zu thun. Es ist daher grundloser Wahn, irgend eine Construetions-
weise, oder eine Verzierungsart aus der Naturhöhle herleiten zu wollen. Haben die Men-
schen irgendwo die Stufe erstiegen, um mit Steinmassen regelmäfsig zu bauen; so haben sie
lange zuvor den dumpfen Aufenhalt der Naturhöhlen den Todten zum Begräbnifs überlassen;
und wodurch sollte sich der Baumeister veranlafst finden, in dieselben zurückzukehren, um
Formen, Verhältnisse oder Ideen zu Verzierungen daraus herzuholen?
§. 2. Anders verhält es sich mit der Hütte. Jeder, auch der mangelhafteste Hüttenbau
ist ein Werk des Menschen, dessen Zusammensetzung er nicht nachahmte, sondern erfand.
Nach den Berichten der Alten, nach den Erzählungen neuerer Reisenden, iund nach dem,
was wir in manchen Gegenden von Europa noch sehen, stellet sich der Hüttenbau in sehr
verschiedener Gestalt dar. Bald sind es Wände von getrocknetem Lehm, oder von Rasen-
stücken, über Avelchen sich ein von Stangen, oder von Rohr zusammen verbundenes, und mit
Binsen oder Stroh überlegtes Dach erhebt; bald sind es trocken aufeinander geschichtete Stei-
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hältnissen, ein anderer Geist der Verzierung wechselt die Ansichten, erfordert neue Berechnung,
giebt neue Resultate. Alle diese veränderten Umstände, Lagen, Maafse und Ansichten er-
mifst der Architekt in seinem Geiste, und jedes neue Werk, das aus seinen Händen hervor-
geht, trägt ein neues Gepräge, einen neuen Charakter. Es scheint manchmal dasselbe und
ist nie dasselbe; und die verschiedenen Werke eines trefflichen Meisters ha"ben nur in so
fern Aehnlichkeit unter sich, als sie alle Schöpfungen eines und desselben richtig denkenden
und richtig empfindenden Wesens sind. Aber ob es je einen solchen Architekten, einen so
vollendeten Bau gegeben, ob beides auch nur möglich sey; die Antwort auf diese Fragen
wird bei der Architektur schwerlich anders ausfallen können, als bey allem andern mensch-
lichen Wissen und Streben. Aber Avenn auch das vollendete blofs in der Idee vorhanden
ist, so dürfen wir doch deswegen solche Ideale nie aus den Augen verlieren: sie sind als
das Ziel unseres Strebens aufgestellt. Das Bemühen jedes einzelnen mufs immer seyn, sich dem
Urbilde zu nähern und jedes Werk, so viel es möglich ist, der Vollendung nahe zu brin-
gen. Nur der Künstler, der mit diesem Streben geboren, und früh in einer trefflichen Schu-
le die wahre Richtung erhalten hat, kann jener Vorzüge sich bewufst seyn, welche den Mei-
ster unter seinen Zeitgenossen geehrt, und bey den Nachkommen unvergefslich machen.
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Sechster Abschnitt.
Von der Entstehung der Baukunst, und von dem Verhältnifs der Zimmerkunst zu dem Steinbau im Allgemeinen.
§. i. Wenn man von dem Ursprung der Baukunst spricht, so pflegt man gewöhnlich
entweder die Hütte, oder die Höhle, oder beyde zugleich für die Vorbilder derselben auszu-
sehen: und so hat man auch die Architektur unter die nachahmenden Künste zählen wollen.
Allerdings wohnten die Menschen anfänglich theils in Holden, theils in Hütten; allein man
war hiedurch noch weit entfernt, ein Vorbild zur Nachahmung vor sich zu haben.
Die Höhle konnte nie als Vorbild dienen. Die Natur durch die Bildung ihrer Klüfte
und Grotten enthüllte dem Menschen keine Gesetze, nach welchen er vermögend gewesen
wäre, aus einzelnen Steinmassen ein Ganzes, der Naturhöhle Aehnliches, zusammenzusetzen.
Er sah Felsenwände und einzelne Stützen, über welche sich andere Massen unförmlich hin-
wölbten. Aber wozu konnte ihm dieser Anblick verhelfen? Allenfalls konnte er lernen aus
einzelnen Steinen Wände und Stützen zusammenzuschichten; aber wie dann sie unter sich
verbinden? wie sie überdecken? Die Naturwölbung lehrte ihn weder das Prinzip, die Steine
konzentrisch zu schneiden, noch die Geheimnisse der Mörtel und Kitte. Die Menschen kön-
nen Jahrhunderte in Naturhöhlen wohnen, ohne dadurch einen bedeutenden Schritt in , der
eigentlichen Construction zu thun. Es ist daher grundloser Wahn, irgend eine Construetions-
weise, oder eine Verzierungsart aus der Naturhöhle herleiten zu wollen. Haben die Men-
schen irgendwo die Stufe erstiegen, um mit Steinmassen regelmäfsig zu bauen; so haben sie
lange zuvor den dumpfen Aufenhalt der Naturhöhlen den Todten zum Begräbnifs überlassen;
und wodurch sollte sich der Baumeister veranlafst finden, in dieselben zurückzukehren, um
Formen, Verhältnisse oder Ideen zu Verzierungen daraus herzuholen?
§. 2. Anders verhält es sich mit der Hütte. Jeder, auch der mangelhafteste Hüttenbau
ist ein Werk des Menschen, dessen Zusammensetzung er nicht nachahmte, sondern erfand.
Nach den Berichten der Alten, nach den Erzählungen neuerer Reisenden, iund nach dem,
was wir in manchen Gegenden von Europa noch sehen, stellet sich der Hüttenbau in sehr
verschiedener Gestalt dar. Bald sind es Wände von getrocknetem Lehm, oder von Rasen-
stücken, über Avelchen sich ein von Stangen, oder von Rohr zusammen verbundenes, und mit
Binsen oder Stroh überlegtes Dach erhebt; bald sind es trocken aufeinander geschichtete Stei-
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