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VIERTES KAPITEL

gehen wurde regelmäßig einige Stunden in „les haultes histoires de
Romine“ gelesen1). Das höchste Gefallen fand er an den Helden des
Altertums: Cäsar, Hannibal und Alexander, „lesquelz il vouloit ensuyre
et contrefaire“2). Alle Zeitgenossen haben auf dieses absichtliche Nach-
leben als Triebfeder seiner Taten großes Gewicht gelegt. „II desiroit
grand gloire — sagt Commines — qui estoit ce qui plus le mettoit en
ses guerres que nulle autre chose; et eust bien voulu ressembler ä ses
anciens princes dont il a este tant parle apres leur mort“3). Chastellain
sah ihn zum erstenmal jenen hohen Sinn für große Taten und für die
schöne antike Geste in die Praxis übersetzen. Es war, als er zum ersten
Male als Herzog in Mecheln einzog, 1467. Er hatte dort einen Aufruhr
zu bestrafen; die Sache wurde in aller Form untersucht und gerichtlich
behandelt, einer der Aufrührer zum Tode verurteilt, andere für ewig
verbannt. Das Schafott wird auf dem Markt aufgerichtet, der Herzog
nimmt ihm gegenüber Platz; der Schuldige hat sich schonrhingekniet,
der Henker entblößt das Schwert; da ruft Karl, der bis dahin seine
Absicht geheimgehalten hatte: „Haltet ein! Nimm ihm die Binde ab
und laß ihn aufstehen.“
„Et me parQus de lors — sagt Chastellain — que le coeur luy estoit
en haut singulier propos pour le temps ä venir et pour acquerir gloire
et renommee en singuliere oeuvre4).“
Das Beispiel Karls des Kühnen ist dazu geeignet, uns zu der Ein-
sicht zu bringen, daß der Geist der Renaissance, die Sucht nach dem
schönen antiken Leben, direkt im Ritterideal wurzelt. Es handelt sich
hier nur, wenn man ihn mit dem italienischen virtuose vergleicht, um
einen Unterschied in Belesenheit und Geschmack. Karl las seine Klas-
siker noch in Übersetzungen, und seine Lebensform ist noch flam-
boyant-gothisch.
Dieselbe Unzertrennlichkeit des ritterlichen und des Renaissance-
elements weist der Kultus der neun Tapferen „les neuf preux“ auf.
Jene Gruppe von neun Helden, drei Heiden, drei Juden, drei Christen,
r) La Marche, II, p. 216, 334.
2) Ph. Wielant, Antiquites de Flandre, ed. De Smet (Corp. ehren.
Flandriae, IV), p. 56.
3) Commines, I, p. 390, vgl. die Anekdote bei Doutrepont, p. 185.
4) Chastellain, V, p. 316—319.
 
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