„REALISMUS“ UND DIE GRENZEN DES BILDLICHEN DENKENS 299
durch die Verwendung jener Mittel auf den rechten Weg gebracht
werden, desto größer wird die Anhäufung jener Verdienste1).
Denkt man sich die guten Werke so substantiell, so mußte diese
Auffassung auch und vielleicht noch intensiver für die Sünde gelten.
Die Kirche lehrte zwar mit allem Nachdruck, daß die Sünde kein Wesen
oder kein Ding wäre2 3), es war jedoch bei ihrer eigenen Technik der
Sündenvergebung im Verein mit der farbigen Gestaltung und ausge-
arbeiteten Systematik der Sünde unumgänglich, daß sich im un-
wissenden Gemüt die Überzeugung, die Sünde sei eine Substanz (so
wie sie in dem Atharvaveda gesehen wird), befestigte. Wie mußte,
wenn auch Dionysius nur Vergleiche beabsichtigte, die substantielle
Auffassung der Sünde als Ansteckungsstoff genährt werden, wenn
er sie einem Fieber, einer kalten, verdorbenen Körperflüssigkeit
ähnlich nennt8). Das Recht, das sich nicht so ängstlich um dogmatische
Sauberkeit zu kümmern hat, spiegelt solch eine Auffassung wider,
wenn die englischen Juristen mit der Vorstellung, daß bei Felonie eine
Verderbnis des Blutes vorhanden ist, arbeiten4). Auch hinsichtlich des
Blutes des Erlösers herrscht die hypersubstantielle Auffassung: es
handelt sich um einen wirklichen Stoff; ein Tropfen hätte genügt,
die Welt zu erlösen, es ist uns aber ein Überfluß davon gegeben, sagt
der Heilige Bernhard, und Thomas von Aquino dichtet:
„Pie Pelicane, Jesu domine,
Me immundum munda tuo sanguine,
Caius una stilla salvum facere
Totum mundum quit ab omni scelere“5 * *).
Bei Dionysius dem Karthäuser beobachten wir ein verzweifeltes
Ringen, die Vorstellungen vom ewigen Leben in Ausdrücken räum-
9 Extravag. commun. lib. V, tit. IX, cap. 2. — Quanto plures ex eins appli-
catione trahuntur ad iustitiam, tanto magis accrescit ipsorum cumulus meritorum.
2) Bonaventura, In secundum librum sententiarum, dist. 41, art. 1, qu. 2,
ib. 30, 2, 1, 34; in quart. lib. sent. d. 34, a. 1, qu. 2, Breviloquii pars II, Opera,
ed. Paris, 1871, t. III, p. 577a, 335, 438, VI, p. 327b, VII, p. 271 ab.
3) Dion. Gart., De vitiis et virtutibus, Opera, t. XXXIX, p. 20.
4) Mac Kechnie, Magna Carta, p. 401.
B) Aus dem Hymnus „Adore te devoto“. Derselbe Gedanke in der soeben
erwähnten Bulle Unigenitus. Vgl. Marlowe, Faustus: „See, where Christ’s
blood streams in the firmament! One drop of blood will save me.“
durch die Verwendung jener Mittel auf den rechten Weg gebracht
werden, desto größer wird die Anhäufung jener Verdienste1).
Denkt man sich die guten Werke so substantiell, so mußte diese
Auffassung auch und vielleicht noch intensiver für die Sünde gelten.
Die Kirche lehrte zwar mit allem Nachdruck, daß die Sünde kein Wesen
oder kein Ding wäre2 3), es war jedoch bei ihrer eigenen Technik der
Sündenvergebung im Verein mit der farbigen Gestaltung und ausge-
arbeiteten Systematik der Sünde unumgänglich, daß sich im un-
wissenden Gemüt die Überzeugung, die Sünde sei eine Substanz (so
wie sie in dem Atharvaveda gesehen wird), befestigte. Wie mußte,
wenn auch Dionysius nur Vergleiche beabsichtigte, die substantielle
Auffassung der Sünde als Ansteckungsstoff genährt werden, wenn
er sie einem Fieber, einer kalten, verdorbenen Körperflüssigkeit
ähnlich nennt8). Das Recht, das sich nicht so ängstlich um dogmatische
Sauberkeit zu kümmern hat, spiegelt solch eine Auffassung wider,
wenn die englischen Juristen mit der Vorstellung, daß bei Felonie eine
Verderbnis des Blutes vorhanden ist, arbeiten4). Auch hinsichtlich des
Blutes des Erlösers herrscht die hypersubstantielle Auffassung: es
handelt sich um einen wirklichen Stoff; ein Tropfen hätte genügt,
die Welt zu erlösen, es ist uns aber ein Überfluß davon gegeben, sagt
der Heilige Bernhard, und Thomas von Aquino dichtet:
„Pie Pelicane, Jesu domine,
Me immundum munda tuo sanguine,
Caius una stilla salvum facere
Totum mundum quit ab omni scelere“5 * *).
Bei Dionysius dem Karthäuser beobachten wir ein verzweifeltes
Ringen, die Vorstellungen vom ewigen Leben in Ausdrücken räum-
9 Extravag. commun. lib. V, tit. IX, cap. 2. — Quanto plures ex eins appli-
catione trahuntur ad iustitiam, tanto magis accrescit ipsorum cumulus meritorum.
2) Bonaventura, In secundum librum sententiarum, dist. 41, art. 1, qu. 2,
ib. 30, 2, 1, 34; in quart. lib. sent. d. 34, a. 1, qu. 2, Breviloquii pars II, Opera,
ed. Paris, 1871, t. III, p. 577a, 335, 438, VI, p. 327b, VII, p. 271 ab.
3) Dion. Gart., De vitiis et virtutibus, Opera, t. XXXIX, p. 20.
4) Mac Kechnie, Magna Carta, p. 401.
B) Aus dem Hymnus „Adore te devoto“. Derselbe Gedanke in der soeben
erwähnten Bulle Unigenitus. Vgl. Marlowe, Faustus: „See, where Christ’s
blood streams in the firmament! One drop of blood will save me.“