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„REALISMUS“ UND DIE GRENZEN DES BILDLICHEN DENKENS 305
lieren; und wenn wir, über alle Tugendübungen in uns ein ewiges
Nichtstun sehen und finden, darin niemand wirken mag; und über alle
seligen Geister eine grundlose Seligkeit, in der wir alle eins sind und
dasselbe Eins, das die Seligkeit selbst ist in ihrer Selbstheit; und wenn
wir ansehen alle seligen Geister, wesentlich entsunken, entflossen
und verloren in ihr Überdasein, in eine unbekannte Dunkelheit ohne
Weise“ x). In der einfachen, artlosen Seligkeit löst sich aller Unterschied
der Kreaturen auf. „Da entfallen sie sich selbst in einer Verlorenheit,
und in Unwissenheit ohne Grund; dort ist alle Klarheit zurückgeführt
in Finsternis, da die drei Personen der wesentlichen Einheit weichen“2).
Es ist immer wieder das fruchtlose Bemühen, alle Bilder aufzu-
heben, um „unsern leeren Zustand, das ist bloße Ungestaltetheit“ die
nur Gott geben kann, zum Ausdruck zu bringen. „Er macht uns bloß
von allen Bildern, und zieht uns in unsern Anfang: da finden wir nichts
anderes als wilde, wüste, ungestaltete Blöße, die beständig der Ewig-
keit entspricht“ 3).
In diesen Zitaten aus Ruusbroec sind auch die zwei letzten Be-
schreibungsmittel schon erschöpft: das Licht, das sich in Dunkel ver-
wandelt, und die reine Negation, das Absehen von allem Wissen. Das
innerste geheime Wesen Gottes seine Dunkelheit zu nennen, stammt
schon von dem Pseudo-Areopagiten. Und sein Namensgenosse, Be-
wunderer und Kommentator, der Karthäuser, arbeitet diesen Aus-
druck aus. „Und die allervortrefflichste, unermeßliche, unsichtbare
Fülle selbst Deines ewigen Lichts wird die göttliche Finsternis ge-
nannt, in der, wie man sagt, Du wohnest, der Du die Finsternisse zu
Deiner Zufluchtstätte machst“4). „Und die göttlichen Finsternisse
selbst sind verdeckt vor allem Licht und verborgen vor jedem Blick,
wegen dem unbeschreiblichen und undurchdringlichen Glanz der
eigenen Klarheit.“ Die Finsternis ist das Nichtwissen, das Aufhören
jedes Begriffs. „Je mehr sich der Geist Deinem überleuchtenden gött-
1) Ruusbroec, Van seven trappen in den graet der gheesteliker minnen,
cap. 14, ed. David, IV, p. 53. Für „ontfonken“ lese ich: „ontsonken“.
2) Ruusbroec, Boec van der hoechster waerheit, ed. David, p. 263; vgl.
Spieghel der ewigher salicheit, cap. 25, p. 231.
3) Spieghel der ewigher salicheit, cap. 19, p. 144, cap. 23, p. 227.
4) II, Par. 6, 1: Dominus pollicitus est, ut habitaret in caligine. Ps. 17, 13:
Et posuit tenebras latibulum suum.
20 Huizinga, Mittelalter
 
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