DIE KUNST IM LEBEN
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wenig Dinge, die durch ihre Schönheit Froissart so entzückten wie
die Schiffe1). Die reich mit Wappen verzierten Wimpel, die am Topp
des Mastes flatterten, waren manchmal so lang, daß sie das Wasser
berührten. Man sieht noch auf den Schiffsabbildungen von Peter
Breughel diese ungewöhnlich langen und breiten Wimpel. Das Schiff
Philipps des Kühnen, an dem Melchior Broederlam 1387 in Sluis
arbeitete, war mit Blau und Gold bedeckt; große Wappenschilde
schmückten den Pavillon auf dem Hinterkastell; die Segel waren mit
Margueriten und den Anfangsbuchstaben des herzoglichen Paares,
mit ihrem Wahlspruch „II me tarde“ bestreut. Die Edlen wetteiferten
untereinander, wessen Schiff für die Expedition nach England am
kostbarsten ausgeschmückt sein würde. Die Maler hatten eine gute
Zeit, sagt Froissart2); sie konnten verlangen, was sie wollten, und man
konnte ihrer nicht genug finden. Er behauptet, daß viele die Masten
ganz mit Blattgold vergolden ließen. Vor allem Guy de la Tremoille
scheute vor keinen Kosten zurück: er wandte mehr als 2000 Pfund
daran. „L’on ne se povoit de chose adviser pour luy jolyer, ne de-
viser, que le seigneur de la Trimouille ne le feist faire en ses nefs. Et
tout ce paioient les povres gens parmy France . . .“
Zweifelsohne würde uns an all der verlorenen weltlichen Zierkunst
der Hang zum glänzend Extravaganten am meisten aufgefallen sein.
Auch den erhaltenen Kunstwerken ist jener Hang zum Extravaganten
ganz entschieden eigen; da wir aber gerade besagte Eigenschaft in
dieser Kunst am wenigsten schätzen, achten wir weniger darauf. Wir
möchten nur die tiefe Schönheit darin genießen. Alles was nur Pracht
und Pomp ist, hat für uns seinen Reiz verloren. Für den Zeit-
genossen jedoch war gerade dieser Pomp und Prunk von ungeheurer
Wichtigkeit.
Die französisch-burgundische Kultur des ausgehenden Mittelalters
zählt zu den Kulturen, in denen Schönheit durch Pracht verdrängt wird.
Die spätmittelalterliche Kunst spiegelt den spätmittelalterlichen
Geist getreu wider, einen Geist, der seinen Weg bis zum Ende
durchlaufen hatte. Was wir aber als eins der wichtigsten Kennzeichen
’) Z. B. Froissart, ed. Luce, VIII, p. 43.
2) Froissart, ed. Kervyn, XI, p. 367. Eine Variante liest „proviseurs“ für
„peintres“, der Zusammenhang macht aber letzteres annehmbarer.
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wenig Dinge, die durch ihre Schönheit Froissart so entzückten wie
die Schiffe1). Die reich mit Wappen verzierten Wimpel, die am Topp
des Mastes flatterten, waren manchmal so lang, daß sie das Wasser
berührten. Man sieht noch auf den Schiffsabbildungen von Peter
Breughel diese ungewöhnlich langen und breiten Wimpel. Das Schiff
Philipps des Kühnen, an dem Melchior Broederlam 1387 in Sluis
arbeitete, war mit Blau und Gold bedeckt; große Wappenschilde
schmückten den Pavillon auf dem Hinterkastell; die Segel waren mit
Margueriten und den Anfangsbuchstaben des herzoglichen Paares,
mit ihrem Wahlspruch „II me tarde“ bestreut. Die Edlen wetteiferten
untereinander, wessen Schiff für die Expedition nach England am
kostbarsten ausgeschmückt sein würde. Die Maler hatten eine gute
Zeit, sagt Froissart2); sie konnten verlangen, was sie wollten, und man
konnte ihrer nicht genug finden. Er behauptet, daß viele die Masten
ganz mit Blattgold vergolden ließen. Vor allem Guy de la Tremoille
scheute vor keinen Kosten zurück: er wandte mehr als 2000 Pfund
daran. „L’on ne se povoit de chose adviser pour luy jolyer, ne de-
viser, que le seigneur de la Trimouille ne le feist faire en ses nefs. Et
tout ce paioient les povres gens parmy France . . .“
Zweifelsohne würde uns an all der verlorenen weltlichen Zierkunst
der Hang zum glänzend Extravaganten am meisten aufgefallen sein.
Auch den erhaltenen Kunstwerken ist jener Hang zum Extravaganten
ganz entschieden eigen; da wir aber gerade besagte Eigenschaft in
dieser Kunst am wenigsten schätzen, achten wir weniger darauf. Wir
möchten nur die tiefe Schönheit darin genießen. Alles was nur Pracht
und Pomp ist, hat für uns seinen Reiz verloren. Für den Zeit-
genossen jedoch war gerade dieser Pomp und Prunk von ungeheurer
Wichtigkeit.
Die französisch-burgundische Kultur des ausgehenden Mittelalters
zählt zu den Kulturen, in denen Schönheit durch Pracht verdrängt wird.
Die spätmittelalterliche Kunst spiegelt den spätmittelalterlichen
Geist getreu wider, einen Geist, der seinen Weg bis zum Ende
durchlaufen hatte. Was wir aber als eins der wichtigsten Kennzeichen
’) Z. B. Froissart, ed. Luce, VIII, p. 43.
2) Froissart, ed. Kervyn, XI, p. 367. Eine Variante liest „proviseurs“ für
„peintres“, der Zusammenhang macht aber letzteres annehmbarer.