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Robert, Carl
Hallisches Winckelmannsprogramm (Band 23): Der müde Silen: Marmorbild aus Herculaneum — Halle a.S., 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.12728#0019
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Melanippe. Oder zweitens, es ist doch die Tochter des Aiolos, aber in dem Moment, wo sie Artemis,
die in der Frau links zu erkennen ist, in eine Stute verwandelt hat. Die Deutung der Gruppe rechts
bleibt dieselbe. Oder Kassandfa neben dem trojanischen Pferd; rechts, diesmal ausnahmsweise als Zuhörer,
Aeneas Kreusa und Askanios. Oder viertens, das Ross ist die Xährerin des Knaben, also haben wir
Alope und rechts den kleinen Hippothoon bei dem Hirtenpaar, das ihn aufziehen soll. Oder die Frau
selbst ist das Pflegekind des Rosses, also fünftens, Camilla und rechts ihr Vater Metabus mit anderen
Familienmitgliedern. Oder seehstens, das Ross hat die Frau nicht nur genährt sondern auch geboren;
dann ist diese Epona, aber diesmal nicht leibhaftig, sondern als Bildwerk zu denken, das ihr Täter Stel-
las den Seinigen zeigt. Ist aber das Ross, das, wie man sieht, bisher bald lebendig, bald aus Holz, bald
aus Stein, stets aber als Stute gedacht wird, vielmehr ein Hengst, so bieten sich gleich zwei Deu-
tungen, die siebente und achte. Wir haben entweder die Tochter des Hippomenes vor uns: irr/tog
v.cä xoo?7, und rechts Hippomenes mit seiner Frau und einem Knaben, dem er die Geschichte seiner
älteren Schwester erzählt, oder Philyra, die Mutter des Chiron, die Kronos in Rossegestalt befruchtet
hat; die Gruppe rechts ist dann dieselbe wie bei den beiden ersten Deutungen. In beiden Fällen aber
sind Ross und Frau wieder als eine plastische Gruppe zu denken. Die Auffassung als Mutter und Sohn
war durch die dritte Deutung der herculanensischen Akademiker schon vorweggenommen. Bleibt
also die als Bruder und Schwester. Diese stellt nun in der That Köhler als die neunte und end-
gültige auf, indem er direct an jene Deutung der Akademiker anknüpft. Wie diese, sieht er in dem
Ross den Arion, in der Frau aber nicht dessen Mutter Demeter, sondern dessen Schwester Despoina,
und rechts hätten wir Adrast, der in Gegenwart seiner Gemahlin Amphikleia seinem Sohne Aigialeus
von dem Siege erzählt, den er in Nemea mit dem Arion errungen hat; die Vase im Hintergrund ist
das Denkmal dieses Sieges.

Aus diesen hohen Sphären hat Thiersch das Pferd wieder in das gewöhnliche Leben zurück-
versetzt, indem er es zuerst aussprach, dass es nichts sei als ein einfaches Reitthier. Dies erkannt zu
haben ist sein entschiedenes Verdienst. Aber die weitere Folgerung, dass die daran gelehnte Frau
die Reiterin sein müsse, war voreilig, und die Deutung auf eine Scene aus dem Oidipus auf Kolonos
völlig verfehlt. Rechts glaubte Thiersch nämlich Oidipus und Antigone, links Ismene erkennen zu
dürfen, wofür der einzige Anhalt war, dass diese nach den Worten der Antigone auf einem Pferde
geritten kommt: ^4lcvalag ini tcloKov ßeßcöoav V. 313. Der Knabe soll der Führer des blinden Oidi-
pus sein, wofür auf den Knaben des Teiresias in der Antigone venviesen wird. Aber neben Antigone
wäre ein solcher zweiter Führer doch ein schwer verständlicher Pleonasmus.

Als Thiersch seine Abhandlung, eine Gratulationsschrift der Universität München zur silbernen
Hochzeit des bayrischen Königspaares, schrieb, lag Gerhards Beschreibung und Jorios Abbildung, durch
die die Interpretation auf eine ganz neue Basis gestellt wurde, bereits seit einer Reihe von Jahren vor,
und es ist eigentlich schwer zu verstehen, wie sie Thiersch unbekannt bleiben konnten. Gerhard hat
denn auch in den Neapler Bildwerken den Alten sofort richtig als Silen bezeichnet und bereits auf
die Pausaniasstelle hingewiesen, die den Schlüssel für die Deutung enthält. Die Frauen liess er da-
mals noch unbenannt und sprach nur im allgemeinen von einem „Cerealisch-bacchischen Mythos".
 
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