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Excurs
über den Ostfries des sog1. Theseions.
Die schattenhafte Gestalt des attischen Königs Amphiktion, mit der wir uns oben S. 9 ff. eingehend
beschäftigt haben, will Sauer auf dem östlichen Theseionfriese erkennen, einem Bildwerke, das bisher den
energischsten Deutungsversuchen auch der gewandtesten Interpreten beharrlichen Widerstand geleistet
hat. Auch Sauer hat nach meiner Ansicht das Wort des Räthsels nicht gefunden, ebenso wenig bin
ich selbst im Stande, eine abschliessende Lösung zu bieten, und wer von jeder archäologischen Inter-
pretation fertige Resultate verlangt, der möge das Folgende ungelesen lassen. Wer aber mit mir der
Ansicht ist, dass schon ein klarer Einblick in den Charakter des dargestellten Vorgangs ein nicht zu
verachtender Gewinn und die scharfe Formulirung des Problems häufig der Interpretation bestes Theil
ist, den darf ich vielleicht bitten, mit mir die Folgerungen zu ziehen, die sich aus den neuen von
Sauer aufgestellten Gesichtspunkten ergeben. Denn in der That hat dieser der ganzen Frage eine neue
Basis gegeben und der bisher in einer schweren, wenn auch verzeihlichen Täuschung befindlichen
Exegese die richtige Balm gewiesen, ein grosses Verdienst, fast grösser als das, auf dieser Grundlage
nun die richtige Benennung der Figuren zu finden, worauf wir, wie ich überzeugt bin, nicht mehr
lange zu warten haben werden. Eine kleine Förderung zu diesem Ziel hin hoffe ich durch die fol-
genden Betrachtungen zu bieten, die ich zwar schon in dem Litterarischen Centralblatt kurz ange-
deutet habe, aber gerade darum hier etwas näher ausführen und begründen möchte.
Zunächst also will ich nochmals in Kürze zeigen, warum Sauers eigene Deutung abzulehnen ist.
Nicht darum, weil die nach ihm auf dem Friese dargestellte Sage uns in dieser Form nirgend auch
nur annähernd überliefert, sondern von dem Interpreten selbst aus sehr dürftigen Elementen con-
struirt ist. Dieses Recht gestehe ich vielmehr den Exegeten ohne AVeiteres zu. Ja, ich muss behaup-
ten, dass ich es im vorliegenden Falle als ein sicheres Resultat der stattlichen Reihe verfehlter Erklä-
rungen betrachte, dass uns die Sage, um die es sich handelt, überhaupt nicht litterarisch überliefert
ist. Der Interpret hat also geradezu die Pflicht, sie aus der Darstellung heraus zu reconstruiren. Nur
muss der auf solche Weise gewonnene Mythos mit der uns ja hinreichend bekannten attischen Sagen-
anschauung des fünften Jahrhunderts im Einklang stehen und sich mit der bildlichen Darstellung mög-
lichst vollkommen decken. An beidem gebricht es bei der Sauerschen Deutung. Erichthonios, der
von Hephaistos auf mystische Weise Erzeugte und von der Erde Geborene, soll in der Hauptfigur,
dem stolzen und kühnen jugendlichen Vorkämpfer in der Mitte erkannt werden, und der Gegenstand
der ganzen Darstellung soll sein, wie er den König Amphiktion, der sich die Herrschaft angemasst
hat, bekämpft, besiegt und vertreibt. Den Hergang stellt sich Sauer folgendermassen vor. Amphiktion
befindet sich auf der Burg, die ihm die Pelasger verschanzt haben. Erichthonios mit den Seinen ist
eben im Begriff, das Pelargikon zu stürmen, das der Bildhauer in beispielloser Kühnheit durch vier
steineschiebende Pelasger, „die lebendig gewordene Mauer", symbolisch bezeichnet. Diese barba-
rischen Knechte des Amphiktion leisten allein noch Widerstand, seine attischen Anhänger wenden
Excurs
über den Ostfries des sog1. Theseions.
Die schattenhafte Gestalt des attischen Königs Amphiktion, mit der wir uns oben S. 9 ff. eingehend
beschäftigt haben, will Sauer auf dem östlichen Theseionfriese erkennen, einem Bildwerke, das bisher den
energischsten Deutungsversuchen auch der gewandtesten Interpreten beharrlichen Widerstand geleistet
hat. Auch Sauer hat nach meiner Ansicht das Wort des Räthsels nicht gefunden, ebenso wenig bin
ich selbst im Stande, eine abschliessende Lösung zu bieten, und wer von jeder archäologischen Inter-
pretation fertige Resultate verlangt, der möge das Folgende ungelesen lassen. Wer aber mit mir der
Ansicht ist, dass schon ein klarer Einblick in den Charakter des dargestellten Vorgangs ein nicht zu
verachtender Gewinn und die scharfe Formulirung des Problems häufig der Interpretation bestes Theil
ist, den darf ich vielleicht bitten, mit mir die Folgerungen zu ziehen, die sich aus den neuen von
Sauer aufgestellten Gesichtspunkten ergeben. Denn in der That hat dieser der ganzen Frage eine neue
Basis gegeben und der bisher in einer schweren, wenn auch verzeihlichen Täuschung befindlichen
Exegese die richtige Balm gewiesen, ein grosses Verdienst, fast grösser als das, auf dieser Grundlage
nun die richtige Benennung der Figuren zu finden, worauf wir, wie ich überzeugt bin, nicht mehr
lange zu warten haben werden. Eine kleine Förderung zu diesem Ziel hin hoffe ich durch die fol-
genden Betrachtungen zu bieten, die ich zwar schon in dem Litterarischen Centralblatt kurz ange-
deutet habe, aber gerade darum hier etwas näher ausführen und begründen möchte.
Zunächst also will ich nochmals in Kürze zeigen, warum Sauers eigene Deutung abzulehnen ist.
Nicht darum, weil die nach ihm auf dem Friese dargestellte Sage uns in dieser Form nirgend auch
nur annähernd überliefert, sondern von dem Interpreten selbst aus sehr dürftigen Elementen con-
struirt ist. Dieses Recht gestehe ich vielmehr den Exegeten ohne AVeiteres zu. Ja, ich muss behaup-
ten, dass ich es im vorliegenden Falle als ein sicheres Resultat der stattlichen Reihe verfehlter Erklä-
rungen betrachte, dass uns die Sage, um die es sich handelt, überhaupt nicht litterarisch überliefert
ist. Der Interpret hat also geradezu die Pflicht, sie aus der Darstellung heraus zu reconstruiren. Nur
muss der auf solche Weise gewonnene Mythos mit der uns ja hinreichend bekannten attischen Sagen-
anschauung des fünften Jahrhunderts im Einklang stehen und sich mit der bildlichen Darstellung mög-
lichst vollkommen decken. An beidem gebricht es bei der Sauerschen Deutung. Erichthonios, der
von Hephaistos auf mystische Weise Erzeugte und von der Erde Geborene, soll in der Hauptfigur,
dem stolzen und kühnen jugendlichen Vorkämpfer in der Mitte erkannt werden, und der Gegenstand
der ganzen Darstellung soll sein, wie er den König Amphiktion, der sich die Herrschaft angemasst
hat, bekämpft, besiegt und vertreibt. Den Hergang stellt sich Sauer folgendermassen vor. Amphiktion
befindet sich auf der Burg, die ihm die Pelasger verschanzt haben. Erichthonios mit den Seinen ist
eben im Begriff, das Pelargikon zu stürmen, das der Bildhauer in beispielloser Kühnheit durch vier
steineschiebende Pelasger, „die lebendig gewordene Mauer", symbolisch bezeichnet. Diese barba-
rischen Knechte des Amphiktion leisten allein noch Widerstand, seine attischen Anhänger wenden