Ein veronesisches Bilderbuch und die höfische Kunst des XIV. Jahrhunderts.
199
Fig. 15. Figur eines Zuschauers
aus den Fresken
in S. Giorgio zu Padua.
(Nach einer Photographie
von Alinari.)
selben Meister herrührende Grabmal Philipp des Kühnen umwandeln. Wie charakteristisch ist nicht
die philiströse Bildung, der Bourgeoishabitus der Valois in den Grabfiguren Philipp VI., Johann II.
und Karl V. in St. Denis und bei den Jacobinern durch die Hand Andre
Beauneveu's wiedergegeben!1 Da stört keine Convention des gothischen
Stils mehr die Linie der Natur und diese Werke könnten ebensogut in der
vollen Renaissance entstanden sein.
Die Malerei ist hinter ihrer Schwesterkunst nicht zurückgeblieben.
Ein Denkmal vor Allem gibt uns darüber Aufschluss, die in ihrer Art
einzig dastehenden Heures des Herzogs Johann von Berry im Besitze des
Duc d'Aumale auf Schloss Chantilly,2 wahrscheinlich ein Werk des Pol de
Limbourg, des bevorzugten Malers im Dienste Berry's. Stünde es nicht
durch die Untersuchungen Delisle's ausser Zweifel, dass die Miniaturen vor
1416, in welchem Jahre der Herzog starb, ausgeführt sein müssen, so
würden wir sie gewiss reichlich eine Generation später anzusetzen geneigt
sein. Denn der Künstler, der sie gemacht hat, beherrscht schon die Per-
spective in der meisterhaften, freilich ganz empirischen Weise der späteren
Flandren Auch den nackten Körper hat er treu seinen heimatlichen Mo-
dellen nachgebildet: seine ersten Eltern im Paradiese, besonders die Eva,
erinnern nicht nur äusserlich an das Genter Altarbild, sie sind in der That
dessen unmittelbare Vorläufer. Endlich erscheint hier zum ersten Male die
Landschaft im Bereiche der Kunst und ihr für immer gewonnen. Die
Architekturbilder des Kalendariums, jene Ansichten des alten Louvre, der
Sainte-Capelle, ferner der verschiedenen dem Herzog von Berry gehörigen Schlösser sind die ersten
ganz modern gedachten landschaftlichen Hintergründe der neuen Kunst. Und alles das wächst aus
dem alten Schema heraus; denn es sind Kalenderbilder, die oben das regierende Sternbild, dar-
unter die dem Monat zukommende Beschäftigung zeigen.
Suchen wir hier nach den Vorgängern der van Eyck's, so
muss bei der Betrachtung der oberitalienischen Kunst unser Be-
streben darauf gerichtet sein, die Brücke zwischen der Kunstweise
des Altichiero und dem grossen Meister des norditalienischen
Realismus, Vittore Pisano, zu finden. In der That sind noch
einige Pfeiler, von der Hochfluth der Zeit verschont, stehen ge-
blieben, die uns den Weg von dem einen zum anderen Ufer, vom
alten zum neuen Stil weisen. Bei Altichiero finden sich Elemente
des letzteren, bei Pisanello Reste des ersteren.
Wir werden hier namentlich auf die ersten Aeusserungen
des Realismus in der Wiedergabe der Natur zu achten haben.
Die Ausbildung der Perspective ist das Verdienst der Toscaner;
auf das dritte Element der Renaissance, das formenbildende Stu-
dium nach der Antike, kann hier nicht weiter eingegangen werden.
Seine ersten Spuren können wir ebenfalls im östlichen Ober-
italien constatiren, in denselben Gegenden, deren Kunst früher
die classischen Stoffe in naivem Rittercostüme behandelt hatte.
Die Art, wie Giotto's neuer Stil im Norden Italiens und in Toscana fortgesetzt wurde, zeigt
gleich den Unterschied zwischen beiden Landschaften. In Toscana ist es der Kreis des Orcagna und
der Seinigen, der grossen, vorläufig noch namenlosen Künstler des Campo Santo in Pisa, die eine neue,
Fig. 16.
S. Lucia knieend in S. Giorgio zu Padua.
(Nach einer Photographie von Aiinari.)
1 Conrajod, Une Statue de Philippe VI au Louvre et l'influence de l'art flamand sur la sculpture francais ä la fin
du XIVe siecle, Gazette des beaux arts 1885, I, 217; Dehaisnes, Andre Beauneveu, Revue de l'art chretien, 1884.
2 Dclisle, Les livres d'heures du duc de Berry, Gazette des beaux arts 1884.
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Fig. 15. Figur eines Zuschauers
aus den Fresken
in S. Giorgio zu Padua.
(Nach einer Photographie
von Alinari.)
selben Meister herrührende Grabmal Philipp des Kühnen umwandeln. Wie charakteristisch ist nicht
die philiströse Bildung, der Bourgeoishabitus der Valois in den Grabfiguren Philipp VI., Johann II.
und Karl V. in St. Denis und bei den Jacobinern durch die Hand Andre
Beauneveu's wiedergegeben!1 Da stört keine Convention des gothischen
Stils mehr die Linie der Natur und diese Werke könnten ebensogut in der
vollen Renaissance entstanden sein.
Die Malerei ist hinter ihrer Schwesterkunst nicht zurückgeblieben.
Ein Denkmal vor Allem gibt uns darüber Aufschluss, die in ihrer Art
einzig dastehenden Heures des Herzogs Johann von Berry im Besitze des
Duc d'Aumale auf Schloss Chantilly,2 wahrscheinlich ein Werk des Pol de
Limbourg, des bevorzugten Malers im Dienste Berry's. Stünde es nicht
durch die Untersuchungen Delisle's ausser Zweifel, dass die Miniaturen vor
1416, in welchem Jahre der Herzog starb, ausgeführt sein müssen, so
würden wir sie gewiss reichlich eine Generation später anzusetzen geneigt
sein. Denn der Künstler, der sie gemacht hat, beherrscht schon die Per-
spective in der meisterhaften, freilich ganz empirischen Weise der späteren
Flandren Auch den nackten Körper hat er treu seinen heimatlichen Mo-
dellen nachgebildet: seine ersten Eltern im Paradiese, besonders die Eva,
erinnern nicht nur äusserlich an das Genter Altarbild, sie sind in der That
dessen unmittelbare Vorläufer. Endlich erscheint hier zum ersten Male die
Landschaft im Bereiche der Kunst und ihr für immer gewonnen. Die
Architekturbilder des Kalendariums, jene Ansichten des alten Louvre, der
Sainte-Capelle, ferner der verschiedenen dem Herzog von Berry gehörigen Schlösser sind die ersten
ganz modern gedachten landschaftlichen Hintergründe der neuen Kunst. Und alles das wächst aus
dem alten Schema heraus; denn es sind Kalenderbilder, die oben das regierende Sternbild, dar-
unter die dem Monat zukommende Beschäftigung zeigen.
Suchen wir hier nach den Vorgängern der van Eyck's, so
muss bei der Betrachtung der oberitalienischen Kunst unser Be-
streben darauf gerichtet sein, die Brücke zwischen der Kunstweise
des Altichiero und dem grossen Meister des norditalienischen
Realismus, Vittore Pisano, zu finden. In der That sind noch
einige Pfeiler, von der Hochfluth der Zeit verschont, stehen ge-
blieben, die uns den Weg von dem einen zum anderen Ufer, vom
alten zum neuen Stil weisen. Bei Altichiero finden sich Elemente
des letzteren, bei Pisanello Reste des ersteren.
Wir werden hier namentlich auf die ersten Aeusserungen
des Realismus in der Wiedergabe der Natur zu achten haben.
Die Ausbildung der Perspective ist das Verdienst der Toscaner;
auf das dritte Element der Renaissance, das formenbildende Stu-
dium nach der Antike, kann hier nicht weiter eingegangen werden.
Seine ersten Spuren können wir ebenfalls im östlichen Ober-
italien constatiren, in denselben Gegenden, deren Kunst früher
die classischen Stoffe in naivem Rittercostüme behandelt hatte.
Die Art, wie Giotto's neuer Stil im Norden Italiens und in Toscana fortgesetzt wurde, zeigt
gleich den Unterschied zwischen beiden Landschaften. In Toscana ist es der Kreis des Orcagna und
der Seinigen, der grossen, vorläufig noch namenlosen Künstler des Campo Santo in Pisa, die eine neue,
Fig. 16.
S. Lucia knieend in S. Giorgio zu Padua.
(Nach einer Photographie von Aiinari.)
1 Conrajod, Une Statue de Philippe VI au Louvre et l'influence de l'art flamand sur la sculpture francais ä la fin
du XIVe siecle, Gazette des beaux arts 1885, I, 217; Dehaisnes, Andre Beauneveu, Revue de l'art chretien, 1884.
2 Dclisle, Les livres d'heures du duc de Berry, Gazette des beaux arts 1884.