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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 31.1913-1914

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I. Teil: Abhandlungen
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Schlosser, Julius von: Aus der Bildnerwerkstatt der Renaissance: Fragmente zur Geschichte der Renaissanceplastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.6178#0094
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Julius von Schlosser.

die Bewegungen des menschlichen Körpers handeln, also die Probleme, die im Kreise Michelangelos
und seiner Nachfolger im Vordergrund standen. Condivi berichtet weiter, daß Michelangelo, der sich bei
seinem hohen Alter zu solcher Arbeit nicht mehr geschickt und aufgelegt fühlte, ihm seine Gedanken
ausführlich entwickelt hätte; zu der geplanten Niederschrift ist aber der Jünger leider ebensowenig ge-
kommen als zu einer von ihm gleichfalls beabsichtigten Sammlung der Dichtungen des Meisters (Vita
c. 69).

Die Sache wird auch durch Vasari bestätigt, der sie, freilich mit hämischem Seitenblick auf seinen
Konkurrenten Condivi, anders darstellt.1

Condivis Vita ist 1553 in Rom gedruckt worden und war in aller Hand. Danti, der keine per-
sönlichen Beziehungen zu Michelangelo hatte, konnte also die Anregung direkt aus ihr erhalten. Tat-
sächlich strebt der von ihm entworfene, aber Torso gebliebene Traktat die Verwirklichung dessen an,
was der alte Meister geplant hatte. Vincenzo ist auch, wie wir sehen konnten, im anatomischen Stu-
dium sein getreuer Nachfolger geworden; berichtet doch gerade Condivi von den langwierigen, ja die
Gesundheit gefährdenden Studien Michelangelos an der Leiche, über das auch seine Zeichnungen ge-
legentlich Aufschluß geben. Diese Kunstprinzipien, in deren sicherem Besitz er sich wähnte, der Nach-
welt zu überliefern, war also Dantis ausgesprochene und ehrgeizige Absicht. Am Schlüsse seines-Büch-
leins entwirft er das Programm des ganzen umfänglichen, auf fünfzehn Bücher berechneten Gesamt-
werkes (Cap. XVI, s. f.). Das erste Buch hatte von den Proportionen im allgemeinen gehandelt; das
zweite sollte die Lehre vom Knochengerüst sowie einen Abriß der gesamten Anatomie des Menschen
enthalten, das dritte, die Lehre von den inneren Organen, das vierte von den Muskeln des Kopfes, das
fünfte bis siebente von denen des übrigen Körpers handeln, alles durch sorgfältige Zeichnungen erläutert.
Das achte Buch sollte die Funktionen sämtlicher Glieder beschreiben, das neunte die Ursachen, die die
Gestaltung der äußeren Teile bedingen, das zehnte die Stellungen und Bewegungsmotive (delle atti-
tudini o ver movimenti), das elfte die Zeichen der Affekte, das zwölfte die Komposition der Histo-
rien, die Draperien und anderes, das dreizehnte die Komposition der Landschaft, die Tierdarstellung
und die Staffage überhaupt, das vierzehnte die Verhältnisse der Architektur, wie sie aus den Körper-
maßen des Menschen abzuleiten sind, das fünfzehnte endlich die Praxis dieser Kunst im weitesten
Umkreis.

Das uns allein vorliegende erste Buch handelt also von den Proportionen im allgemeinen.
Cicognara bezeichnet es in seiner bekannten Bibliographie als «un libretto prezioso e meritamente raro,
e degno che sia ristampato, poichfe non hanno forse le arti un opera piü chiaramente e meglio scritta
di questa», ein Lob, das nicht ganz unbegründet ist.

Dantis Gedankengang entwickelt sich beiläufig in folgender Weise. Das Prinzip der Proportion
ist die Ordnung (l'ordine), d. h. die Harmonie der Teile untereinander und im Verhältnis zum Ganzen.
Ihre Voraussetzung ist aber die Dissonanz (disordine), durch deren [Gegensatz die Harmonie erst als
logischer Begriff möglich wird und die also einen Entwicklungsfaktor darstellt; denn ohne sie wären
die Mischbildungen (misti) nicht möglich, die wieder zur Harmonie zurückleiten. Danti hat hier, wie
man sieht, in merkwürdiger Weise einen Gedanken der romantischen Evolutionsphilosophie vorgeahnt,
die Entstehung der höheren Einheit aus dem Gegensatz von Position und Negation, die logische Kadenz.
Ordnung ist aber das Prinzip der Schönheit, die auf der Ubereinstimmung der Teile beruht.

Die Schönheit des menschlichen Körpers im besonderen hängt jedoch nicht nur an den vollkommenen
Proportionen aller Glieder, sondern auch aller Handlungen, die sich in Bewegung ausdrücken.
Schönheit beruht also auf Verhältnismäßigkeit, nicht nur in quantitativem sondern qualitativem Sinne:
Zweckmäßigkeit, organische Richtigkeit, Angemessenheit (attezza). «La proporzione non e altro che la

1 Vasari ed Milanesi VII, 274:... mi ricordo, che Michelagnolo gli veniva compassione si dello stento suo, e 1'aiu-
tava (d. i. Condivi) di sua mano; ma giovö poco: e s' egli avessi avuto un subietto, che me lo disse parecchie volte, arebbe
spesso cosi vecchio fatto notomia, ed arebbe scrittovi sopra, per giovamento de'suoi artefici: che fu ingannato da parecchi:
ma si difidava per non potere esprimere con gli scritti quel ch' egli arebbe voluto, per non essere esercitato nel dire, quan-
tunque egli in prosa nelle lettere sue abbia con poche parole spiegato bene il suo concetto etc.. . .
 
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