Kekule, Über einen angeblichen Ausspruch des Lysipp.
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griffe von der Menschengestalt, der aufser der Erfahrung steht, einem Ideale.« Hier-
mit stimme der ganze Zusammenhang der Stelle vortrefflich. Die hochschenkeligen
Statuen mit kurzem Oberleibe und kleinen Köpfen seien offenbar die, die der ly-
sippischen Schule und Nachfolge angehörten. Schwerlich aber könne behauptet
werden, dafs solche Proportionen den Bildungen gesunder und kräftiger Natur wirk-
lich zu Grunde lägen; vielmehr werde man sie selten, zumal unter Griechen und
anderen Südvölkern, mit völliger Muskelkraft vereinigt finden und es gehöre eine
ganz eigene Behandlung dazu, so hoch aufgeschossene Figuren doch kräftig er-
scheinen zu lassen. Deshalb könne man auch nicht glauben, dafs Lysippos gerade
durch tiefere Naturstudien auf seine nova intactaque ratio geführt worden sei. Im
Gegenteil, erklärt Müller, wage er zu sagen, dafs sich damals, wie in allen Dingen,
so auch in der Kunst der vom Schönen gesättigte und übersättigte Geschmack der
Hellenen schon vom Einfachen und Natürlichen abzuwenden anfing und dafs darum
die Künstler nicht mehr, wie früher, in den Gymnasien mit unbefangenem Sinne
die herrlichsten Formen und vollkommensten Proportionen suchten, sondern sich
nach eigner Willkür ein System schufen, welches durch Neuheit blendete und ent-
zückte — den Idealstil der griechischen Kunst.
Otfried Müller ist bei der Entscheidung solcher Fragen überhaupt wol selten
von sehr eindringenden Beobachtungen an erhaltenen Skulpturen ausgegangen. Plier
beruft er sich ausdrücklich auf Rumohrs bekannte Auseinandersetzung, unter deren
frischem und starkem Eindruck er schreibt und deren Lehren er für die Einsicht in
den Gang der griechischen Kunst zu verwerten sucht. Daher bezeichnet er als ihre
Entwickelungsstufen »strenge Naturtreue mit einiger Beimischung herkömmlicher
Manieren; innige Wahrheit des Lebens zur Form und zum Ausdruck grofser
Gedanken gemacht; Streben nach einem Übernatürlichen in den Formen«. Von
den älteren Künstlern glaubt Müller, dafs sie die Natur überall lebensvoll und gesund
auffafsten, dafs sie das durch Zufälligkeiten Entstellte, in der Bildung Gehemmte
absonderten, dafs sie alle Entwicklungen, Lebensregungen, Bewegungen »die alle
durch das wunderbare Gesetz des menschlichen Daseins einem Innern entsprechen,
das wir instinktmäfsig daraus zu erkennen vermögen« zu verfolgen und zu ergreifen
wufsten. Und so kommt Müller zu dem Satz: »Was ist der Künstler ohne dies Ver-
folgen des geistig Bedeutsamen im körperlichen Leben, und welche unlösbare Ver-
wirrung mufs in diesem schönen Reiche der Harmonie des Leiblichen und Über-
sinnlichen entstehen, wenn die Willkür mit anmafslicher Frechheit hineingreift und
durch selbsterschaffene Formen die Natur meistern will? Das war es indefs, was
seit Lysippos in der griechischen Kunst (freilich lange nicht in dem Mafse wie bei
neueren Idealisten) Eingang fand und wovon so manche Werke der antiken Kunst
Zeugnis geben.«
Ich weifs nicht, welche Werke O. Müller bei diesen letzten Worten im
Sinne hatte. Sein hartes und übereiltes Urteil über Lysipp entspringt der grauen
Theorie: es gründet sich nur auf die im einzelnen nicht erwiesene, sondern im all-
gemeinen angenommene Voraussetzung eines bestimmten Entwicklungsganges, den
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griffe von der Menschengestalt, der aufser der Erfahrung steht, einem Ideale.« Hier-
mit stimme der ganze Zusammenhang der Stelle vortrefflich. Die hochschenkeligen
Statuen mit kurzem Oberleibe und kleinen Köpfen seien offenbar die, die der ly-
sippischen Schule und Nachfolge angehörten. Schwerlich aber könne behauptet
werden, dafs solche Proportionen den Bildungen gesunder und kräftiger Natur wirk-
lich zu Grunde lägen; vielmehr werde man sie selten, zumal unter Griechen und
anderen Südvölkern, mit völliger Muskelkraft vereinigt finden und es gehöre eine
ganz eigene Behandlung dazu, so hoch aufgeschossene Figuren doch kräftig er-
scheinen zu lassen. Deshalb könne man auch nicht glauben, dafs Lysippos gerade
durch tiefere Naturstudien auf seine nova intactaque ratio geführt worden sei. Im
Gegenteil, erklärt Müller, wage er zu sagen, dafs sich damals, wie in allen Dingen,
so auch in der Kunst der vom Schönen gesättigte und übersättigte Geschmack der
Hellenen schon vom Einfachen und Natürlichen abzuwenden anfing und dafs darum
die Künstler nicht mehr, wie früher, in den Gymnasien mit unbefangenem Sinne
die herrlichsten Formen und vollkommensten Proportionen suchten, sondern sich
nach eigner Willkür ein System schufen, welches durch Neuheit blendete und ent-
zückte — den Idealstil der griechischen Kunst.
Otfried Müller ist bei der Entscheidung solcher Fragen überhaupt wol selten
von sehr eindringenden Beobachtungen an erhaltenen Skulpturen ausgegangen. Plier
beruft er sich ausdrücklich auf Rumohrs bekannte Auseinandersetzung, unter deren
frischem und starkem Eindruck er schreibt und deren Lehren er für die Einsicht in
den Gang der griechischen Kunst zu verwerten sucht. Daher bezeichnet er als ihre
Entwickelungsstufen »strenge Naturtreue mit einiger Beimischung herkömmlicher
Manieren; innige Wahrheit des Lebens zur Form und zum Ausdruck grofser
Gedanken gemacht; Streben nach einem Übernatürlichen in den Formen«. Von
den älteren Künstlern glaubt Müller, dafs sie die Natur überall lebensvoll und gesund
auffafsten, dafs sie das durch Zufälligkeiten Entstellte, in der Bildung Gehemmte
absonderten, dafs sie alle Entwicklungen, Lebensregungen, Bewegungen »die alle
durch das wunderbare Gesetz des menschlichen Daseins einem Innern entsprechen,
das wir instinktmäfsig daraus zu erkennen vermögen« zu verfolgen und zu ergreifen
wufsten. Und so kommt Müller zu dem Satz: »Was ist der Künstler ohne dies Ver-
folgen des geistig Bedeutsamen im körperlichen Leben, und welche unlösbare Ver-
wirrung mufs in diesem schönen Reiche der Harmonie des Leiblichen und Über-
sinnlichen entstehen, wenn die Willkür mit anmafslicher Frechheit hineingreift und
durch selbsterschaffene Formen die Natur meistern will? Das war es indefs, was
seit Lysippos in der griechischen Kunst (freilich lange nicht in dem Mafse wie bei
neueren Idealisten) Eingang fand und wovon so manche Werke der antiken Kunst
Zeugnis geben.«
Ich weifs nicht, welche Werke O. Müller bei diesen letzten Worten im
Sinne hatte. Sein hartes und übereiltes Urteil über Lysipp entspringt der grauen
Theorie: es gründet sich nur auf die im einzelnen nicht erwiesene, sondern im all-
gemeinen angenommene Voraussetzung eines bestimmten Entwicklungsganges, den