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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0471
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§9. Das Stoffgebiet des Zeichnens an den allgemeinbildenden Schulen.

denen das zeichnende Kind sich seine Stoffe zu holen hat. Nur hat
man sich auf dieser Stufe vor einem zu hüten, etwas Begriff-
liches zur Darstellung bringen zu lassen. Es wäre verfehlt, etwa
einen Berg, ein Tal, einen Hügel, eine Kirche zeichnen zu lassen,
sondern den Berg, die Brücke, die Kirche, den Baum u. s. w., den
man mit den Kindern in Wirklichkeit (nicht allein im Bilde) be-
trachtet hat. Selbstverständlich geben hier Pläne von Gebäuden,
Ortschaften, Städten, Profile von bestimmten Hügeln, Tälern, Ge-
birgszügen, Karten des Heimatsortes, des Distriktes, des Kreises,
des Flusssystemes, sowie Blumen und Tiere der Heimat ganz ge-
eigneten Übungsstoff für den graphischen Ausdruck und die Aus-
bildung der Gesichtsvorstellung. Dabei wird sich langsam der gra-
phische Ausdruck vom Schema zum Erscheinungsgemässen entwickeln,
wie vier bis sechs Jahre früher der sprachliche Ausdruck vom Stammeln
vön Wort- und Satzbrocken zur korrekten Ausdrucksweise einfacher
Gedanken sich entwickelt hat. Wie für diese Entwickelung der Sprache
das Vorsprechen von Wörtern und Sätzen die unerlässliche Be-
dingung ist, so ist für die graphische Entwickelung das Vorzeigen
und Vorzeichnen ein unbedingtes Erfordernis.

Dabei ist alles Zeichnen in den ersten vier Schuljahren in der
Hauptsache entweder Zeichnen nach dem Gedächtnisbild der Er-
scheinung oder noch besser ein Zeichnen aus der Gesamtvorstellung
heraus, wenigstens soweit der Klassen unterricht sich damit befasst,
genau ebenso wie das Kind aus seinem Gedächtnis und seinen Vor-
stellungen heraus sich seine Worte und Sätze bildet. Wir werden
dieser Forderung um so mehr nachkommen müssen, als uns
die Untersuchungen in § 5 auf das deutlichste gezeigt haben, dass
dem Kinde der graphische Ausdruck aus der Vorstellung heraus weit
besser gelingt, als das Zeichnen nach der Natur. Nichtsdestoweniger
werden wir bei den wenigen Begabten, deren rasche Auffassung
(Apperzeption) sie hiefür als geeignet erscheinen lässt, das Zeichnen
nach der Natur anregen, bei allen das Abzeichnen guter Muster
ausserhalb des Schulunterrichts empfehlen. Für das an den heimat-
kundlichen Unterricht angeschlossene Zeichnen ist ohnehin das Ge-
dächtniszeichnen im allgemeinen das einzig mögliche, wenn der heimat-
kundliche Unterricht da seine Vorstellungen im Kinde schafft, wo
er sie schaffen soll, nämlich draussen in der Natur und nicht inner-
halb der vier Schulwände.

Auf diese Weise werden freilich keine Zeichnungen gewonnen,
die man klassenwTeise ausstellen kann oder besser gesagt, deren klassen-
weise Ausstellung das Lob der unverständigen grossen Masse hervorrufen

\

Gedächtnis-

zeichnen.
 
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